Rezension

Das System beruht auf Verfügbarkeit

Und alle so still
von Mareike Fallwickl

„Schau uns an, wir sind jung. Wir haben so viele Möglichkeiten, aber keine fühlt sich richtig an. Alles ist kaputt und zerfahren und kompliziert. Was ist das für eine scheiß Welt, Nuri?“

 

Drei ungleiche Charaktere: Nuri ist 19 Jahre alt, ohne Schulabschluss, und möchte endlich ein unabhängiges Leben fernab seiner Eltern führen. Doch trotz Nebenjobs rund um die Uhr und kaum zwei Stunden Schlaf am Tag schafft er es nicht über die Runden. Elin, Anfang 20, ist als Influencerin erfolgreich, findet in ihrem eigenen Leben jedoch keinerlei Orientierung. Und schließlich Ruth, Mitte 50, deren absoluter Lebensmittelpunkt als Pflegefachkraft das Krankenhaus zu sein scheint und die das Wohl ihrer Patient*innen immer über das eigene stellen würde.  

Doch dann liegen plötzlich Frauen auf der Straße und weigern sich aufzustehen. Zuerst nur vor dem Krankenhaus, dann in der ganzen Stadt. Sie gehen nicht mehr zur Arbeit, kümmern sich nicht mehr um die Kinder, erledigen keine Haushaltsaufgaben mehr. Auch in Ruths Klinik erscheinen zunehmend weniger Pflegerinnen und Ärztinnen zum Dienst und innerhalb weniger Tage kippt das System.

 

Ich liebe Mareike Fallwickls Bücher. Seit mir „Dunkelgrün fast Schwarz“ während des ersten Lockdowns in die Hände gefallen ist, habe ich sie alle verschlungen. Ihre Erzählweise ist wahnsinnig dicht, die Charaktere sind immer greifbar und sie scheut sich definitiv nicht, den Finger in die Wunde zu legen.

Aber der neue Roman ist für mich nochmal anders besonders. Ich habe während der Pandemie als Assistenzärztin auf einer Intensivstation gearbeitet und die Klinik kurz danach ganz verlassen. Insbesondere Ruths Schilderungen gingen mir so nahe, dass ich das Buch regelmäßig weg legen musste. Die Unterbesetzung, die ständige Überforderung, die fehlenden Pausen und Auszeiten. Und die ständige Erwartungshaltung der Gesellschaft, trotz allem immer weiter zu machen, weil „wir haben uns den Job schließlich ausgesucht“. Ein Care-Streik ist ehrlich gesagt etwas, was ich mir seit Jahren wünsche!

Das Buch fängt auf fast schmerzhafte Weise die Zerrissenheit einer Gesellschaft ein, die auf unbezahlte Care Arbeit von (hauptsächlich) Frauen und kapitalistischer Ausbeutung basiert, und zeigt gleichzeitig fast ein Gegenmodell.