Rezension

Denn das Netz vergisst nie

Marias letzter Tag - Alexandra Kui

Marias letzter Tag
von Alexandra Kui

Bewertet mit 5 Sternen

Das Buch ist sehr liebevoll gemacht. Mit verschiedenen Schriftarten für verschiedene Teile des Textes, mit mehreren Schwarzweiß-Fotos, kleinen Play-Zeichen an jedem Kapitelbeginn und eine Art Tagwolke mit unterschiedlichen Schriftgrößen.
Auch sonst ist an dem Buch so Einiges experementiell – dieses Buch darf zur anspruchsvolleren Jugendlektüre gezählt werden, die auch mich gepackt und nicht mehr losgelassen hat, sodass dies eins dieser Bücher wurde, die ich an die absurdesten Orte mit mir mitgeschleppt habe.
Sehr gekonnt baut die Autorin hier nämlich zwei Parallelwelten auf – die Dorfwelt der Erwachsenen, in der jeder jeden kennt, jedes Jahr die gleichen Feste gefeiert werden und jedes Ereignis die Runde macht – und die Welt der Teenager im Internet, in der man sein Leben nicht mit ein paar hundert, sondern mit tausenden von Menschen teilt und in der Trends sich auf eine Weise hochschaukeln können, wie sich die Offliner es kaum vorstellen können. Offliner, die das Netz weder ernstnehmen noch wissen, was ihre Kinder in der Parallelwelt treiben, inklusive.
Was ich toll fand, war, dass das Netz nicht per se verteufelt oder verurteilt wird. Smartphones und Social Networks sind Teil des Lebens – aber während die Jugendsünden früher kaum Konsequenzen hatten, weil im Idealfall schlicht niemand von ihnen erfuhr, vergisst das Internet nie (und gleichzeitig sofort, wenn man nicht dauernd auf sich aufmerksam macht) und Lou fehlt mit sechzehn der Weitblick für das, was sie losgetreten hat und nicht mehr eingedämmt bekommt.
Sehr realistisch auch, dass Jugend hier nicht mehr das gelobte Land ohne Sorgen ist. Die Probleme der Jugendlichen fühlen sich ernstgenommen und authentisch an.

Die Gestaltung des Buches an sich ist ja schon toll - Hardcover, typografische Spielereien und ein ruhiges, aber sehr schönes und passendes Cover. Hier ist einfach alles rund und zusammenpassend - das Beerenrot/Salatgrün-Farbschema findet sich auch auf der Rückseite und wenn man den Schutzumschlag abnimmt, ist das Buch darunter beerenrot.
Und das Buch enthält Fotos :D.

Lou hat Sorgen, Lou hat Ängste, Lou ist so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht bemerkt, wie mit ihrer Freundin irgendetwas nicht stimmt – bis gemunkelt wird, Maria wäre vor den Zug gesprungen.
Sie beschließt, sich ihren Ängsten zu stellen und darüber YouTube-Videos zu drehen. Doch sie hat nicht damit gerechnet, dass ihre Botschaft völlig anders verstanden wird und ihre Idee außer Kontrolle gerät. In meinen Augen ein sehr aktuelles, wichtiges Thema. Was wir beabsichtigen und was dabei herauskommt, sind immer zwei Dinge. Egal wie alt und reif man ist, nicht immer kann man die Dynamik vorausahnen. Und für Lou ist die Tragweite des Unsinns, den andere Leute tun, unüberblickbar, weil sie selbst natürlich genau weiß, was sie tut, wieso und was sie damit aussaen will.

Mir hat der Aufbau hier sehr gut gefallen – Lou ist ein moderner Teenager und entsprechend laufen ihre Gedanken und Erinnerungen weder chronologisch noch sehr zielgerichtet ab. Diese natürliche, sprunghafte Erzählweise ermöglicht es, auf eine ganz andere Art und Weise Spannung aufzubauen. Das war für mich sehr authentisch gelöst und einer der Gründe, aus denen ich das Buch kaum aus der Hand legen wollte.

Dieser Roman spielt sehr schön mit Sprache – vom bewussten Einsatz von Songtexten über typografische Unterschiede bei verschiedenen Textsorten, verschiedene Schriftgrößen und mal mehr, mal weniger fragmentarische Sätze wird sehr authentisch nachgezeichnet, wie ein permanent vernetztes Kind unserer Zeit denkt.

Das Netz ist unerbittlich, vergisst nie und gleichzeitig sofort, will immer mehr und mehr – und irgendwann ist der Contentlieferer entmenschlicht und das Netz bricht wie eine Flutwelle über ihm zusammen. Es sei denn, man passt von Anfang an auf, was man in dieser virtuellen Welt macht – die, anders als es vielen vorkommt, eben keine Parallelwelt ist, sondern ein Teil unseres Lebens. Genauso, wie Angst ein Teil unseres Lebens ist, mit dem man den richtigen Umgang lernen muss.
Das ist die starke Botschaft eines starken Buches.
Von mir gibt es dennoch eine uneingeschränkte Leseempfehlung – für Jugendliche und internetaffine Jugendbuchleser jeden Alters.