Rezension

Die wahre Geschichte des jungen Victor Frankenstein

Düsteres Verlangen - Kenneth Oppel

Düsteres Verlangen
von Kenneth Oppel

*Worum geht's?*
Victor Frankenstein und sein Zwillingsbruder Konrad sind ein Herz und eine Seele. Beide wären dazu bereit, ihr Leben für den anderen zu riskieren. Als Konrad an einem mysteriösen Leiden erkrankt, das kein Arzt zu heilen vermag, ist es für Victor an der Zeit, seine Solidarität unter Beweis zu stellen. In einer verborgenen Bibliothek des Schlosses Frankenstein entdeckt er ein Buch, indem das Rezept für ein geheimnisvolles Allheilmittel geschrieben steht - dem Elixier des Lebens. Victor ist sich sicher: Mit diesem Trunk kann er seinen Bruder kurieren! Doch um an die bizarren Zutaten zu gelangen, müssen er und seine Freunde Henry und Elizabeth sich riskanten und gefährlichen Herausforderungen stellen. Mit jeder bewältigten Aufgabe rückt das Elixier näher und näher und die süße Versuchung der Alchemie zieht Victor immer mehr in ihre dunklen Fänge, ohne dass er bemerkt, wie er sich durch den Einfluss der Macht verändert...

*Kaufgrund:*
Die Geschichte um Frankenstein und sein Monster begeistert seit Mary Shelleys Roman jede Generation aufs Neue. Unzählige Adaptionen haben Frankenstein tatsächlich unsterblich werden lassen - in Theaterstücken, Musicals und (Horror-)Verfilmungen. Mit "Düsteres Verlangen" traut sich Kenneth Oppel nun an eine Neuerzählung des beliebtes Stoffes. Neugierig darauf, wie mir diese wohl gefallen würde, forderte ich meinen (imaginären) Diener Igor auf, mir das Buch unverzüglich zukommen zu lassen.

*Meine Meinung:*
Ein bestialisches Ungeheuer, ein spannender Schwertkampf und eine düstere Fehde zweier Brüder - Kenneth Oppel lässt seinen Roman "Düsteres Verlangen" mit einem mitreißenden Theaterstück beginnen, indem die Frankenstein-Zwillinge Victor und Konrad mitspielen, und sichert sich somit von Anfang an die volle Aufmerksamkeit seiner Leser. Der actionreiche Einstieg fesselt jeden augenblicklich an die Seiten, denn man möchte sofort wissen, wie es mit den Brüdern weitergeht. Zwar waren die ersten Szenen des Romans bloß Teil eines Schauspiels, doch man wird das Gefühl nicht los, dass mehr dahinter steckt - besonders hinter dem Zwist der Zwillinge.

Oppel nimmt sich für jedes Kapitel viel Zeit. Er beschreibt jede noch so kleine Szene mit viel Liebe zum Detail und liefert seinen Lesern damit ein Kopfkino, das man zweifelsohne genießen kann. Er legt Wert darauf, dass man jede Seite aufmerksam liest und sie dabei "erlebt", da es in "Düsteres Verlangen" keine unwichtigen Szenen gibt, die man "überlesen" könnte. Alles spielt in der schaurigen Neuerzählung eine Rolle. Trotz Oppels ausführlichen und bildhaften Schreibstil wird die Geschichte nicht langatmig, im Gegenteil: Sie erweist sich als waschechter Pageturner...

' sobald man den etwas spannungslosen Anfang überstanden hat, denn nach dem aufregenden Einstieg geschieht lange nichts mehr, was die Nerven auf die Folter spannen würde. Konrad wird krank und es folgt ein Marathon von ergebnislosen Arztbesuchen im Schloss Frankenstein. Erst als Victor die Alchemie für sich entdeckt, nimmt die Handlung wieder rasant an Fahrt auf. Gefährliche Abenteuer warten auf ihn und seine Freunde Elizabeth und Henry; riskante, beängstigende und halsbrecherische Aufgaben, die es zu bestehen gilt, um dem Elixier des Lebens näher zu kommen, das Konrad ein für alle Mal heilen soll. Bis zum Schluss steigert sich die Spannung so stark, dass man das Buch gar nicht mehr zur Seite legen kann, obwohl man es nach einigen brutalen Szenen, die einem das Knochenmark gefrieren lassen, wohl gerne würde.

Den fünfzehnjährigen Protagonisten Victor Frankenstein lernt man bereits im ersten Kapitel als einen hochmütigen, impulsiven Hitzkopf kennen, der sich durch sein unbedachtes Handeln immer wieder selbst in Schwierigkeiten bringt. Obwohl er und sein Bruder eineiige Zwillinge sind, könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Während Konrad stets das Richtige tut, besonnen, reif und selbstlos handelt und in allen Dingen ein wenig besser ist als sein Bruder, ist Victor spontaner, abenteuerlustiger und neugieriger. Ein bisschen neidisch und eifersüchtig ist Victor schon, aber das würde er niemals selbst zugeben, denn er liebt, schätzt und respektiert keinen Menschen so sehr wie seine zweite Hälfte. Deshalb muss er keine Sekunde darüber nachdenken, ob er dazu bereit wäre, sich den gefahrvollen Aufgaben zustellen und nach dem sagenumwobenen Elixier des Lebens zu suchen, um seinen Bruder zu retten. Jemanden mit so viel Mut, Tapferkeit und Aufopferungsbereitschaft kann man als Leser - trotz seiner Überheblichkeit - einfach nur ins Herz schließen! Doch je näher Victor dem Elixier zu kommen scheint, desto merkwürdiger verhält er sich. Seltsame Träume plagen ihn, finstere Gedanken schleichen sich in seinen Kopf und sowohl der Leser als auch Victor selbst ertappen sich dabei, den jungen Protagonisten nicht mehr wieder zu erkennen. Die Versuchung der Macht verändert Victor, zieht ihn immer stärker in ihren Bann, aber sein Ziel verliert er nie ganz aus den Augen. Seine Entwicklung im Verlauf der Handlung zu beobachten ist nicht nur spannend, sondern auch erschreckend und emotional zugleich.

Victor Frankenstein kann als Erzähler der Geschichte spezielle Einblicke in seine Gedanken und Gefühle geben, was sich dank seiner düsteren Entwicklung als besonders informativ und aufregend erweist. Obwohl sein Charakter im Fokus steht, kommen die handelnden Nebenfiguren nicht zu kurz. Auch Elizabeth und Henry, die Victor auf der Suche nach den Zutaten begleiten, müssen über ihren Schatten springen. Dadurch kommen verborgene Facetten ihrer Persönlichkeiten an den Tag, die man ihnen zum Teil gar nicht zugetraut hätte. Sogar Polidori, der Alchemist, kann mit einer verborgenen Eigenschaft begeistern, als er ihn in einem überraschenden Moment enthüllt. Es bleibt zu hoffen, dass Kenneth Oppel im Folgeband weiterhin so viel Wert auf seine Nebenfiguren legt.

Als ich auf dem Klappentext von der Dreiecksbeziehung zwischen Elizabeth und den Frankenstein-Zwillingen las, war ich zunächst sehr skeptisch. Ich erwartete eine typische Liebesgeschichte, in der sich die bildhübsche, zurückhaltende Elizabeth bis zum Schluss für keinen der zwei Brüder entscheiden können würde. Doch Kenneth Oppel sollte mich in dieser Hinsicht völlig überraschen, denn seine Dreiecksbeziehung entwickelt sich überhaupt nicht nach dem üblichen Schema und bringt einige verblüffende Momente mit sich. Dies liegt vor allem an Elizabeth, der weiblichen Hauptfigur des Dreiecksgeflechts. Sie ist zwar mindestens ebenso wunderschön wie die meisten ihrer Genrekolleginnen, doch im Gegensatz zu ihnen weiß die selbstbewusste Elizabeth ganz genau, was sie will - und wen sie will! Sie ist eine ehrliche und mutige junge Frau, die ihr Leben für die Menschen, die sie liebt, ohne zu zögern opfern würde. Trotz ihres feurigen Temperaments sehnt sie sich nach Ruhe, Halt und Geborgenheit, weshalb ihr die Wahl ihres Liebsten nicht sonderlich schwer fällt - bis sie sich und ihre Gefühle durch unerwartete Ereignisse selbst besser kennenlernt.

Wenn Kenneth Oppel eine Neuerzählung schreibt, dann handelt es sich dabei nicht etwa um eine grobe Adaption einer bekannten Geschichte, die nur noch den Namen des Hauptcharakters und den allgemeinen Handlungsverlauf mit dem Original gemein hat. Oppel hat hervorragende Recherchearbeit geleistet und sich intensiv mit Shelleys "Frankenstein" auseinandergesetzt, um seinen eigenen Roman so nah wie möglich an der Vorlage entlanglaufen zu lassen. Wer das Original also bereits gelesen hat, wird bei "Düsteres Verlangen" an einigen Stellen amüsiert lächeln oder den Kopf schütteln müssen. Bis auf Konrad hat Oppel die gesamte Familie Frankenstein aus dem Original entnommen. Auch Elizabeth, die Angebetete der Zwillinge, und Victors bester Freund Henry stammen eigentlich aus Shelleys Feder und haben ihre ursprüngliche Rolle in der Geschichte behalten. Aber Kenneth Oppel hat nicht nur die Charaktere, sondern ganze Handlungsgegenstände originalgetreu übernommen. Sowohl Victors Interesse an der Alchemie als auch seine Suche nach dem Elixier des Lebens anhand der Aufzeichnungen von Agrippa und Paracelsus sind Themenstränge aus dem echten "Frankenstein"-Roman. "Düsteres Verlangen" sprießt geradezu vor Parallelen zum Original, die Oppels Adaption noch viel interessanter machen.
(Übrigens, der bucklige Diener Igor ist bloß ein Filmcharakter und findet sowohl in Shelleys Original als auch in Oppels Neuerzählung (noch) keine Erwähnung. Wirklich schade...)

*Cover:*
Auf einem schlichten weißen Hintergrund prangt ein riesiger Tintenklecks, den der stereotype Psychologe seinen Patienten zeigt, um in ihre Psyche zu blicken. Wer genau hinschaut, entdeckt darauf die Gesichter der zwei Frankenstein-Zwillinge und ihrer Liebsten, Elizabeth. Ein eindrucksvolles Cover, das alle Blicke auf sich zieht und sich deutlich aus der Masse hervorhebt. Es sieht einfach klasse aus! Von seiner Bedeutung bin ich besonders begeistert, denn in "Düsteres Verlangen" spielt die Psyche des Menschen eine wichtige Rolle.

*Fazit:*
"Düsteres Verlangen - Die wahre Geschichte des jungen Victor Frankenstein" ist ein spannender Auftakt einer neuen Reihe, die ich definitiv nur weiterempfehlen kann. Nach einem schwerfälligen Start wird die Geschichte so aufregend und mitreißend, dass man nicht mehr mit dem Lesen aufhören kann! Die Suche nach dem Elixier des Lebens verlangt den facettenreichen Charakteren, speziell dem Protagonisten, einiges ab und verändert sie. Victors Entwicklung beobachten und einen Blick in seine unentschiedene Psyche werfen zu können hat mich fasziniert und beängstigt zugleich. Kenneth Oppel hat mich erbarmungslos an seine Seiten gefesselt, bis ich - nach der Fortsetzung flehend - am Ende der Geschichte angekommen war. Für "Düsteres Verlangen" gibt es 4 Sterne.