Rezension

Düster, blutig und brutal gut

Düsteres Verlangen - Kenneth Oppel

Düsteres Verlangen
von Kenneth Oppel

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt und Kritik:
Mit "Düsteres Verlangen" hat Kenneth Oppel dieses Mal keine eigene Geschichte gesponnen, sondern erzählt vielmehr die Vorgeschichte eines sehr bekannten Klassikers düsterer Literatur: Mary Shelleys "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" (Prometheus: wird in der griechischen Mythologie oft als Schöpfer der Menschen und Tiere bezeichnet).

Wie wurde Victor Frankenstein zu dem Mann, der das Geheimnis entdeckte, toten Stoffen Leben einzuhauchen und letztendlich beschloss einen künstlichen Menschen zu erschaffen?

Victor Frankenstein wächst gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Konrad auf. Als dieser an einem unheilbaren Fieber erkrankt, will Victor alles dafür tun, um seinem Bruder das Leben zu retten. In einer geheimen Bibliothek, die die Brüder gemeinsam mit ihrer entfernten Cousine und Ziehschwester Elizabeth entdeckt haben, und in der ihr Vorfahr Wilhelm Frankenstein Alchemie ausübte, stößt Victor auf ein Buch, das die Rezeptur zum legendären "Elixier des Lebens" verspricht. Victor hat nichts zu verlieren und macht sich auf eine gefährliche Suche nach den benötigten Zutaten. Dabei kämpft er nicht nur gegen den dunklen Schrecken von Konrads mysteriöser Krankheit an, der Alchemist Polidori - der Victor, Elizabeth und ihren gemeinsamen Freund Henry bei der Entschlüsselung der geheimen Rezeptur unterstützt - verfolgt scheinbar eigene Ziele und auch Victors Selbstverliebtheit und Arroganz droht die Mission ein ums andere Mal scheitern zu lassen. Ist Victor größtes Ziel wirklich seinen Bruder zu heilen? Oder will er sich nur selbst beweisen? Will er seinem Bruder tatsächlich im Leben halten, damit er mit seiner Liebe Elizabeth glücklich werden kann? Oder soll er ihre Liebe für sich selbst gewinnen? In Victor steckt ein dunkler Kern, der ihn immer mehr und mehr überschattet.

Wie bereits mit Oppels "eigenen Welten", konnte mich der Autor auch mit seiner adaptierten Vorgeschichte zu dem großen Klassiker "Frankenstein" begeistern.
Kenneth Oppel erschafft sich mit jedem seiner Werke neu. Statt Tierfantasy oder Steampunktwelten erwartet den Leser hier eine historisch angehauchte Geschichte, die trotzdem nicht Oppels Einfallsreichtum und Fantasie vermissen lässt. Die Queste, die Victor mit seinen Freunden Elizabeth und Henry bestreiten muss, um die drei Zutaten für das Elixier des Lebens zu erlangen, liest sich märchenhaft düster: der Weg führt sie himmelhoch, in die Tiefen der Erde und letztendlich zu einer Aufgabe, die einem vor Ekel und Angst das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ich kenne Oppels düstere Fantasie und Schreibweise nur zu gut aus seiner Fledermaus-Tetralogie und bin um einige Jahre dem empfohlenen Lesealter entwachsen, und trotzdem schafft es Kenneth Oppel immer wieder mich zu erschrecken und zu gruseln.
Ein weiteres Phänomen ist seine Figurentiefe. Ihm gelingt es jedes Mal mich an seine Figuren zu binden, egal ob es sich um Tiere handelt (Fledermaus-Tetralogie), die "Guten" oder die "Bösen". Auch die Vielschichtigkeit im Charakter macht es so einfach mit seinen Figuren mitzufiebern und mitzuleiden, sie zu lieben oder zu hassen. So ist Victor kein "Böser" im eigentlichen Sinne, aber seine Arroganz und Selbstverliebtheit führen weiß Gott nicht dazu, dass man ihn ins Herz schließt. Und doch skizziert Kenneth Oppel immer wieder Szenen, in denen man Victor bemitleiden muss, nachdem man ihn nur einige Seiten zuvor verflucht hat ob seiner selbstzerstörerischen und ignoranten Art, mit der er Einwände von Freunden und Familie in den Wind schlägt. Teils hält einem der Autor damit einen Spiegel vor, denn sind wir nicht selbst manchmal zerfressen von innerer Unzufriedenheit, fühlen uns unzulänglich, versuchen alles perfekt zu machen, oder stehen zwischen den Stühlen, weil egal, wie wir eine Sache machen: wir uns damit entweder selbst verletzen oder einen geliebten Menschen?

Aufmachung:
Das Cover von Max Meinzold interpretiert den Inhalt des Buches auf geniale Weise, die sich dem Leser erst nach Beenden das Buches zur Gänze erschließt.
Das Bild auf dem Cover erinnert einem sofort an einen Rohrschach-Test (ugs. Tintenkleckstest), da es auf den ersten Blick völlig symmetrisch wirkt und faserig-zerlaufen wie mit Tinte gemalt. Auf den zweiten Blick sieht man jedoch Unterschiede zwischen der linken und rechten Seite: im linken Bild sehen wir Victor, der irgendwie verschlagen wirkt, rechts hingegen Konrad, ruhig und besonnen. Am oberen Bildrand kann man die entsetzte Elizabeth erkennen und komplett wirkt das Bild auf den Betrachter wie der Schädel eines Luchses, der ebenfalls als Figur in dieser Geschichte vorkommt.

Fazit:
Oppels Vorgeschichte zu "Frankenstein" ist düster und blutig, manchmal regelrecht brutal für ein Jugendbuch. Es ist nicht durchgehend spannend, sondern auch recht kopflastig. Einerseits hat er wieder einen echten "Kenneth Oppel" abgeliefert, andererseits erschafft er sich mit jedem Werk neu, und dafür liebe ich diesen Autor! Und ich bin mir fast sicher, wenn Mary Shelley noch leben würde, wäre sie ebenfalls begeistert von dieser Vorgeschichte zu ihrem berühmtesten Werk.