Rezension

Direkt, ergreifend, stark

Wodka mit Grasgeschmack -

Wodka mit Grasgeschmack
von Markus Mittmann

Bewertet mit 4.5 Sternen

Direkt, ergreifend, stark – so ließe sich mein Leseeindruck beschreiben, auch wenn es mir schwerfällt, mich auf nur wenige Worte zu beschränken. Der Roman besticht durch seine Unmittelbarkeit, dies auf verschiedenen Ebenen: so agieren die Figuren sehr nachvollziehbar, es ist problemlos möglich, ohne große Distanz bei ihnen zu sein.

Direkt, ergreifend, stark – so ließe sich mein Leseeindruck beschreiben, auch wenn es mir schwerfällt, mich auf nur wenige Worte zu beschränken. Der Roman besticht durch seine Unmittelbarkeit, dies auf verschiedenen Ebenen: so agieren die Figuren sehr nachvollziehbar, es ist problemlos möglich, ohne große Distanz bei ihnen zu sein. Gekonnt und geschickt werden geschilderte Zeiten vermischt, sodass es keine Rolle zu spielen scheint, ob eine Szene gerade in der Gegenwart spielt, in der tiefsten Vergangenheit, lediglich eine kurze Rückblende ist oder ein zeitloser innerer Monolog. Raffiniert vermengt der Autor auch noch die Tempora und schafft einen fließenden Übergang zwischen den Generationen. Die hilft wesentlich, eine der Hauptbotschaften des Buches zu vermitteln, nämlich, dass man als Individuum nie einfach die Kombination aus Genen beider Eltern ist, was dann die Erziehung auch noch weiter beeinflusst. Nein, die Vergangenheit, insbesondere Traumata, wie es hier die Vertreibung ist, wirkt nach, durchbohrt die Bretter der Zeit und damit diejenigen der Generationen. Das kollektive Unbewusste, das Generationengedächtnis gestaltet die Lebenswirklichkeiten mit und «reichert» das Kollektivbewusstsein an. Dieses wird dadurch mehr als das ungeschriebene Gesetz. Nein, in «Wodka mit Grasgeschmack» schleichen sich vergangene, besonders schmerzhafte Erfahrungen ein in die Gegenwart, der Leser darf dabei sein, wenn zwei Menschen an ihren ursprünglichen Heimatorten den Spagat durchzuführen versuchen, sich zu erinnern, zu trauern, und sich gleichzeitig mit der Vergangenheit und der Gegenwart zu versöhnen. Der Balanceakt ist sichtlich ungeübt, brüchig, die Gedanken auszusprechen hilft allen, sich auf die außerordentliche Situation einzustellen. Sprachlosigkeit, Schweigen über Erlebtes wirkt stark. Daher war es beim Lesen sehr beeindruckend, wenn die Eltern plötzlich, nach Jahrzehnten, äusserst detailliert frühere Erlebnisse schilderten. Als Leser ist man ganz nah dran und empfindet eine Art innere Befreiung, Erleichterung, dass endlich über Schwieriges geredet wird. Schön ist zu erfahren, dass die Reise in die Vergangenheit die Familie später auch bereichert hat, beispielsweise, indem anders, qualitativ wertvoller, offener bei Zusammenkünften miteinander gesprochen wird. Herrlich unbeschwert und dadurch auflockernd fand ich die Figur des Enkels der Protagonisten. (Denn auch wenn der Leser vom Ich-Erzähler Einblick erhält in die Reise der Familie in die Vergangenheit, spielen seine Eltern für mich die grundsätzlichere Rolle.)

Überzeugend war, wie die Altersunterschiede der Figuren aus verschiedenen Generationen, mit eigenen Sichtweisen, Bedürfnissen und Problemen, dennoch als geradezu heilsam zusammengehörend wirken. Obwohl sich im Unausgesprochenen zeigt, was unaussprechlich ist und Traumata weiterwirken.

Markus Mittmann nimmt den Leser mit auf eine Reise nicht nur zwischen Generationen, sondern konkret zu Orten der Erinnerung, zu Zeugnissen deutsch-polnischer Geschichte, die hoffentlich nie vergessen wird.

Immer wieder erfreuten mich beim Lesen poetische oder philosophische Sentenzen, die der sachlichen und schweren Thematik Würde und eine gewisse Leichtigkeit verlieh. «Musik ist ein Lebensmittel», wäre ein schönes Beispiel. Sätze, die sich ins Mark bohren, dass «die Deutschen wiederkommen» würden, oder dass das Gefühl «wie eine offene Tür» sei, stechen ins Herz. Ein Durchatmen gab es bei: «Es gibt keine Nationalitäten! Es gibt nur Menschen und einen Himmel über diesen Menschen» oder «Schlesier brauchen ihren Mohn» (als es um eine Gusseiserne Mühle geht) und bei den herrlichen Schilderungen von traditionellen Gerichten. Es stellt sich die Frage, was und wo Heimat ist. Es gibt keine einheitliche Antwort darauf, beim Lesen hatte ich öfter das Gefühl, die Figuren seien trotz «Wohnorten» und «Lebensräumen» irgendwie heimatlos. Als lebten die Vertriebenen nur mit einem Fuss in Deutschland, wo sie gegen ihren Willen hingekommen waren, während der andere Fuss irgendwo in der Luft war, gegen den Osten gerichtet.

Traditionen, Erinnerungen, Wurzeln, Familiengefühl, Wehmut, Sehnsucht und auch Traurigkeit sind ständiger Begleiter beim Lesen dieser nahrhaften Lektüre.

Markus Mittmann skizziert eine Reise in die Vergangenheit im symbolischen und tatsächlichen Sinne, vermischt Zeiten, Generationen, Erinnerungen und Gefühle miteinander, wodurch man beim Lesen unmittelbar bei den Figuren dabei sein kann. Ich danke dem Autor, dass er uns mit seinem Roman teilhaben lässt an einem Stück deutscher, polnischer, europäischer Geschichte. Es ist höchste Zeit, sich tiefgründig und behutsam mit der Vergangenheit zu befassen, die uns alle betrifft, weil wir Spuren und Folgen davon in uns tragen. Die Lektüre ist ein wichtiger Beitrag zur subjektiven und objektiven Zeitgeschichte, weil sie mit unglaublich präzisen Schilderungen Situationen und Probleme wieder auferstehen lässt, deren Zeugen sich ihr Leben lang in Schweigen gehüllt haben, bald nicht mehr unter uns weilen werden. Vielleicht wäre es eine gute Idee, dieses Buch an deutschen und polnischen Gymnasien zur Pflichtlektüre zu machen?

Von mir eine volle, starke Leseempfehlung!