Rezension

Ein ambivalentes Leseerlebniss

Blanca - Mercedes Lauenstein

Blanca
von Mercedes Lauenstein

Bewertet mit 4 Sternen

"Hätte die Auflaufform mich getroffen, wäre alles anders gekommen. Vielleicht wäre ich jetzt tot. Aber ich sprang gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer und schlug die Tür hinter mir zu." (S. 5)

BAM! Ein Romanbeginn wie ein Faustschlag ins Gesicht. Schonungslos wird der Leser mittenrein geworfen in das Leben der 15-jährigen Blanca, die überall zuhause ist, aber keine Heimat hat. Blanca, die einen besonderen Namen besitzt und mit einer ebenso außergewöhnlichen Mutter zurechtkommen muss. Einer Mutter, die sich ständig auf der Flucht vor Verantwortung, vor Konfrontation und dem „aufgeräumten, spießigen Leben“ befindet und sich nicht binden möchte. Die leicht aufbrausend und gewalttätig ist und im nächsten Moment zärtlich und fürsorglich.  Ein Leben wie ein Drahtseilakt über einer tiefen Schlucht – jeden Moment könnte man abstürzen, könnte alles zusammenbrechen. Jahrelang hat Blanca so gelebt, das Reisen von Ort zu Ort und die verrückten An- und Einfälle ihrer Mutter nicht hinterfragt. Doch eines Tages kommt der heftige Knall, der das Kartenhaus zum Einsturz bringt und Blanca will nur noch weg; will nach Italien, auf die Insel zu Toni und seinem Vater Karl, bei denen sie einen Sommer lang in ihrer Kindheit das Gefühl hatte, ein richtiges Zuhause zu haben. Sie begibt sich auf einen nervenaufreibenden Roadtrip und in gewisser Weise auch auf eine Suche nach sich selbst...

Als Leser ist man sofort an Blancas Seite, schließt sie direkt ins Herz, fühlt mit ihr und wächst mir ihr und ihren Erfahrungen. In geschickt verwobenen Rückblicken erfahren wir immer mehr Ereignisse aus ihrer Kindheit, tauchen immer tiefer ein in das ambivalente Beziehungsgeflecht zwischen ihr und ihrer Mutter und deren negative Weltsicht. Blanca sehnt sich nach Ruhe, nach einem geregelten Tagesablauf, nach einem Zuhause mit spießigen Brotzeitdosen und Tennisstunden. Trotzdem spürt sie auch den Reiz des Unberechenbaren, des Ungewissen - in solchen Momenten ist sie ihrer Mutter ganz nahe: „Ich beneidete andere Kinder um ihre Normalität und ertappte mich gleichzeitig immer wieder bei dem Gedanken, wie schrecklich es sein musste, nicht wir zu sein.“ (S. 18) Blanca wirkt in vielen Situationen sehr stark, sehr erwachsen und besitzt einen fast zu abgeklärten Blick auf die Welt. Doch es gibt auch die zerbrechliche, verletzliche Blanca, die mit Tieren, Wolken, Gras und dem Himmel spricht, weil sie keine anderen Bezugspersonen hat oder Strategien entwickelt, um unnahbar und stark zu wirken.

Mercedes Lauenstein hat einen wirklich beeindruckenden Schreibstil. Poetisch und etwas altklug lässt sie ihre Heldin auf dem Weg nach und durch Italien philosophieren, schwerwiegende Gedanken wälzen und beschreibt dabei Umgebungen und Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen lebendig und treffsicher. Durch Lauensteins ehrliche, klare und dabei doch sehr stimmungsvolle Sprache entsteht ein spannendes und lebendiges Leseerlebnis, dessen Sog man sich nur schwer entziehen kann.

Trotz des sehr einnehmenden Beginns und einer gelungenen ersten Hälfte konnte der Roman mich leider nicht über den kompletten Verlauf hinweg begeistern. Im letzten Drittel gab es einige Phasen in der Geschichte, die mir persönlich irgendwie zu viel waren. Was genau zu viel war? Ich kann es nicht genau sagen. Leider. Vielleicht war es das leise, ungute Gefühl, das mich zwischenzeitlich beschlichen hat: Blanca wird wie ihre Mutter. Flieht, wenn sie Angst hat, verlässt sich auf wildfremde Menschen, verliert sich in Partys und Alkohol. Dabei dachte ich, sie wäre anders, möchte nicht so werden wie ihre Mutter. Vielleicht war es aber auch einfach ein Zuviel an Skurrilitäten und Dramatik, an philosophischen Gedankengängen und Coming-of-Age-Gesülze. Irgendwann hatte ich genug, aber da kam auch schon das Ende des Roadtrips, das mich wieder komplett versöhnt hat mit Blancas Geschichte. Mehr kann ich nicht verraten.

 

Fazit

Eine schmerzlich schöne Geschichte über das Erwachsenwerden, eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung und die Suche nach sich selbst. Alles in allem liefert der Roman keine neuen Erkenntnisse, Ideen oder Lösungsverschläge, aber er verpackt eine altbekannte Coming-of-Age-Geschichte in brillantem Schreibstil und wunderbar verwobener Erzählweise. Leider kein absolutes Highlight (wie anfangs gedacht!), aber doch sehr empfehlenswert! Allein für solche Beschreibungen...

„Mit Musik im Ohr wird alles bedeutsam. Plötzlich sieht man sich von oben, von unten, von allen Seiten gleichzeitig, jeder Schritt federt nach, und man spürt alles auf einmal. Es ist, als ob man einen Film sieht Als ob man in dem Film ist. Mit Musik im Ohr versteht man endlich, was man nie erklären kann." (S. 21)

Kommentare

wandagreen kommentierte am 24. Juli 2018 um 07:44

Ah, das ist ein Roadtripbuch. Roadtrips mag ich nicht wirklich. Ab und zu zieht mich trotzdem eins in Bann, wie Josie zeigte. Was neue Erkenntnisse angeht, tut sich die Romanwelt schwer damit: es ist doch irgendwie alles schon einmal gesagt und geschrieben worden.

Sie sehnt sich nach Tennisstunden? :DDD. Dann will sie sofort hoch hinaus. Geregelter Tagesablauf: schön. Da sollte vllt noch die Sehnsucht nach einer guten Schulbildung sein. Und nach Zukunft.