Rezension

Frauenschicksale

Die Frauen von Maine -

Die Frauen von Maine
von J. Courtney Sullivan

Bewertet mit 5 Sternen

Jane lebt seit ihrer Kindheit in einem kleinen Ort an der Küste Maines. Im Sommer jobbt sie nebenher auf einem Touristenboot und erzählt den zahlenden Kunden von der Geschichte des Ortes. Auf einer dieser Fahrten entdeckt sie ein altes Haus, versteckt auf einer Klippe und dieses Haus wird ein wichtiger Teil ihres Lebens werden. 

Die Frauen von Maine ist ein sehr berührender Roman über Frauen, Familie, Liebe, Verlust, über Wurzeln, darüber, wie verschieden die Perspektiven auf die Vergangenheit sein können und darüber, wie diese verschiedenen Perspekiven dazu führen können, wie Geschichte, über Generationen hinweg falsch weitergegeben wird. 

Die Autorin schafft es mit ihrem Stil einen direkt mitzunehmen in die Geschichte, die mit Jane und ihrer Jugend beginnt. Man lernt die Familienverhältnisse kennen, erlebt das schwierige Verhältnis zu Janes alkoholkranker Mutter, die Freude, die Jane in ihren Büchern findet, am Lernen und die ersten Enttäuschungen, als sie realisiert, das sie ein Stipendium eben nur bekommt, weil sie durch ihre Lebensumstände dafür in Frage kommt. In dieser Phase findet Jane dann ihren Sehnsuchtsort, das Haus auf den Klippen, hier findet sie Zuflucht vor der Welt und beginnt sich schon früh zu fragen, wer wohl früher hier gelebt hat und wie das Leben dieser Menschen wohl ausgesehen haben mag.

Jahre später begegnet der Leser Jane wieder, konfrontiert mit dem Tod ihrer Mutter, mit ihrer ungewollten Kinderlosigkeit, mit dem Scheitern ihrer Ehe und mittlerweile auch ihrem eigenen Alkoholproblem. Eine wirklich sympatische Hauptfigur ist Jane hier eher nicht, sie wirkt sehr egoistisch, selbstzerstörerisch, zerfließt vor Selbstmitleid und schwelgt in ihrer Wut und ihrem Hass auf ihre Mutter. In diesem Teil des Buches webt die Autorin geschickt die Schicksale der verschiedenen Frauen ein, die in den vergangenen Jahrhunderten im Haus auf den Klippen lebten, nach und nach entsteht so ein Bild der Vergangenheit, bis hin zu den indigenen Ureinwohnern, die im Buch bewusst an bestimmten Stellen "Indianer" genannt werden, eben weil es die Bezeichnung ist, mit der sie in historischen Berichten, Tagebucheinträgen und Dokumenten genannt werden. Hier spannt sich ein weiter Bogen, hin zur Entstehungsgeschichte des Ortes, zur Zeit der Ankunft der ersten Siedler in der "Neuen Welt" und hier kommt dann auch zur Sprache, wie verzerrt, die Ereignisse hier dargestellt werden, je nach dem, aus wessen Sicht sie erzählt werden. Da gibt es dann  etwa auch die gewalttätigen Eingeborenen, die ganze Siedlungen niederbrennen, die heroischen Stadtväter, die unter Einsatz ihres Lebens das wilde Land in Besitz nehmen und auf der anderen Seite eben die, im Einklang mit der Natur und den Jahreszeiten lebenden Indigenen, die an ihren angestammten Lagerplätzen plötzlich auf Fremde treffen, die die Männer verschleppen, den Wald roden, Flüsse vergiften, Krankheiten verbreiten, gegen eine Kopfprämie ganze Familien ausrotten und darüber akribisch Buch führen. 

Das Buch verbindet über die titelgebenden Frauen von Maine eine unglaubliche Vielzahl von persönlichen Schicksalen und liefert so einen sehr authentischen Blick auf das jeweilige Zeitgeschehen. Gerade bei der Thematik rund um die indigene Bevölkerung wird auch deutlich gemacht, welche Aufklärungsarbeit selbst heute noch nötig ist, um historische Fakten ins richtige Licht zu rücken, um historische Ereignisse in den richtigen Kontext zu setzen, um den Menschen ihre Würde, ihre Traditionen, ihre Identität zurückzugeben. Hier bietet das Buch natürlich nur eine recht kleine Plattform und daher finden sich am Ende noch einige Hinweise auf weiterführende Literatur.

Mich hat diese Verschmelzung der verschiedenen Thematiken sehr berührt, allerdings kann ich verstehen, dass einige Leser das eventuell als zu viel empfinden. Kurz ging es mir persönlich so, als die Autorin Spiritualitäti und Geister ins Spiel bringt. Allerdings wurde dieser Teil dann auch zum emotionalsten für mich, den es wird hier etwas beschrieben, das ich eins zu eins so selbst schon erlebt habe, mag man daran glauben, oder eben nicht. Im Grunde hat die Autorin den Stoff für mehrer Bücher in eins gefasst. Für mich macht genau das den Reiz der Geschichte aus, die am Ende geschickt wieder zum Ausgangspunkt, zu Jane, zurückkehrt. Ich habe Die Frauen von Maine gern auf ihren Lebenswegen begleitet.