Rezension

Geht unter die Haut

Pepper-Man - Camilla Bruce

Pepper-Man
von Camilla Bruce

Bewertet mit 4 Sternen

„Pepper-Man“ habe ich komplett falsch eingeschätzt. Erwartet hatte ich eine geradlinige, allenfalls etwas schräge skandinavische Gruselgeschichte. Mit dieser Vermutung lag ich ziemlich daneben. Warum das so war? Dazu muss ich leider etwas spoilern. Denn zum einen möchte ich um bestimmte Dinge nicht herumeiern, zum anderen hätte ich mich gefreut, wenn ich selbst eine vage Ahnung gehabt hätte, was hier auf mich zukommt.

Camilla Bruce spielt mit Elementen des Fantasy- und Horrorgenres, erzählt aber im Grunde eine tragische Geschichte über Kindesmissbrauch und familiäre Kälte. Ihre Protagonistin heißt Cassandra und ist zu Beginn des Romans noch ein kleines Mädchen. Cassandra glaubt fest daran, mit einem wilden Feen-Mann befreundet zu sein, den nur sie selbst sehen kann. Dieser sogenannte Pepper-Man weicht ihr nicht mehr von der Seite, macht ihr seltsame Geschenke, umschmeichelt sie. Gleichzeitig raubt er ihr die Unschuld, fügt ihr schreckliche Schmerzen zu. Und Cassandra kann niemanden um Hilfe bitten. Denn von ihrer Familie erfährt sie nur Ablehnung.

Als Erwachsene schreibt Cassandra ihre Geschichte für Nichte und Neffe nieder. Dieses Protokoll halten nun auch wir Leser*innen in den Händen und erfahren so von Cassandras Martyrium, von Kinderjahren bis ins höhere Alter.

Das alles liest sich düster und beklemmend. Und obwohl explizite Details oft nur flüchtig anklingen, qualvoll intensiv. Die Ahnung, dass besagter Pepper-Man lediglich ein Produkt von Cassandras Fantasie sein könnte, quasi eine Flucht in eine andere Welt, um den brutalen Akt des Missbrauchs zu verarbeiten, drängt sich dem Leser dabei relativ schnell auf. Auch Cassandra selbst zieht diese Möglichkeit mit der Zeit in Betracht, fühlt aber eine so starke Verbundenheit mit der Feenwelt, dass sie die Vorstellung wieder verwirft. Da wir Leser*innen uns durchgängig in Cassandras Gedanken befinden, haben wir letztlich die Wahl, die Geschichte auf die eine oder andere Weise zu interpretieren. Schlussendlich bleibt sogar die Option, es (zeitweise oder durchgängig) mit „bloßen“ Wahnvorstellungen zu tun zu haben. 

Die konsequente Beibehaltung mehrerer Deutungsebenen macht dieses Buch zu etwas Besonderem. Mir persönlich war es jedoch im Grunde egal, ob es sich beim Pepper-Man um einen echten oder verzweifelt herbeifantasierten Feen-Mann handelt. Denn am Umstand der schweren Traumatisierung und Leidesnot der Protagonistin änderte dies für mich nichts. Und so übte „Pepper-Man“ auch keinerlei mystischen Zauber auf mich aus, sondern vielmehr eine verstörende Faszination.

Die Geschichte liest sich durchweg spannend. Mit einem unguten Gefühl im Bauch, folgt man der gebrochenen Hauptfigur durch die Höhen und (brutalen) Tiefen ihres Lebens, genießt gemeinsam mit ihr zwischenzeitlich tatsächlich so etwas wie Frieden und Glück, um schließlich zu erfahren, ob diese seltsam-eindeutig-zwei-oder-dreideutige Geschichte ebenso konsequent endet, wie sie bis dato angelegt ist und welche Überraschungen sie parat hält.

Fazit: Ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Aber ein durchaus fesselndes, ungewöhnliches Leseerlebnis, das eine ganze Palette unterschiedlicher Emotionen ausgelöst – von Faszination, über Ekel, Erschütterung, Neugier bis hin zu tiefer Traurigkeit. Nach dem Lesen musste ich erst einmal tief durchatmen.