Rezension

Gute Ansätze, aber leider durchzogen von Sexismus, Rassismus und Fatshaming!

Was auf das Ende folgt -

Was auf das Ende folgt
von Chris Whitaker

~ Eigentlich hätte ich „Was auf das Ende folgt“ drei Sterne gegeben, weil trotz der Schwächen (Klischees, fehlende Tiefe, Spannungseinbrüche) auch viele gute Ansätze erkennbar waren (Schreibstil, Figurenzeichnung, Plotentwicklung). Leider sind der das ganze Buch durchdringende Male Gaze, der Sexismus, der Rassismus, das Slutshaming und Fatshaming in meinen Augen unerträglich und unverzeihlich, sodass ich diesen Roman mehrmals abbrechen wollte. Durchgehalten habe ich nur, um am Ende diese fundierte Rezension schreiben zu können. Ich bin jedenfalls sehr enttäuscht und kann dieses Debüt leider nicht weiterempfehlen! ~

Inhalt

Mit der nächtlichen Entführung des 3-jährigen Harry aus seinem Bettchen halten das Böse und die Angst Einzug in die eigentlich idyllische Kleinstadt Tall Oaks. Der Täter: eine Person mit Clown-Maske. Auch in einer Stadt, in der eigentlich jede*r jede*n kennt, gibt es Geheimnisse – doch wer hat mehr zu verbergen als alle anderen? Wer hat Harry entführt?
 
Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figurale Erzählweise, Präteritum
Perspektive: viele weibliche und männliche Perspektiven im schnellen Wechsel
Kapitellänge: kurz bis mittel

Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Content Note / Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Tod von Kindern & Babys, Trauer, Depression, Alkoholmissbrauch, psychische Krankheiten, Suizid, Suizidgedanken, Gewalt, Blut, Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Diskriminierung, Fatshaming, Slutshaming, Mobbing, Erbrechen, (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen, selbstverletzendes Verhalten, schwierige Beziehung zu den Eltern
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: H+re, N+tte, Schl+mpe, Miststück (fast alles mehrmals)

 

Rezension

„Auf die eine oder andere Art sind wir alle abgef*ckt.“ E-Book, Position 2446

Da beide bereits auf Deutsch erschienenen Bücher des Autors sowohl von der Kritik als auch vom Lesepublikum viel Lob erhalten haben (sein 2. Buch hat sogar Preise bekommen!) und da der Klappentext nach einem tiefgründigen Roman mit liebevoll ausgearbeiteten Figuren und einem überzeugenden Kleinstadt-Setting klang (das mag ich eigentlich sehr ♥), wollte ich ihn unbedingt lesen.

Überzeugen konnte mich das Buch leider schlussendlich nicht, denn: Diese Mischung aus Roman und Krimi ist für alle Leute perfekt, die sich schon seit Jahren aufregen, dass man ja heutzutage „überhaupt nichts mehr“ sagen dürfe. Denn Chris Whitaker beweist mit diesem Buch: Man darf nicht nur ALLES sagen, was man will (und marginalisierte Gruppen am laufenden Band beleidigen & verletzen), sondern man darf es sogar SCHREIBEN – und wird trotzdem von Verlagen veröffentlicht, sogar in andere Sprachen übersetzt, von der Kritik gelobt und von den Leser·innen gefeiert. Und DAS finde ich wirklich traurig! Die Geschichte enthält nämlich so ziemlich alle -Ismen, die es gibt.

Fangen wir mit dem Fatshaming (= Fettfeindlichkeit) an: Die dicken Figuren in diesem Buch sind wandelnde Klischees, ihre Persönlichkeit besteht zu 80% aus ihrem Dicksein, fast alle ihre Gedanken drehen sich um die Leibesfülle – und damit wir es als Leser·innen auch ja nicht vergessen, werden wir in jedem zweiten Satz daran erinnert, wie UNGLAUBLICH dick und ekelhaft und verschwitzt die Person ist und dass sie auf zwei Sesseln sitzen muss, nach gefühlt 10 m Fußweg außer Atem ist und den ganzen Tag nur süße Limonade trinkt. Natürlich sind auch alle mehrgewichtigen Leute in diesem Buch entweder schreckliche Menschen oder haben einen sehr geringen IQ.

Auch „witzige“ rassistische Sprüche dürfen da natürlich nicht fehlen! So kommt zum Beispiel (zumindest in der Übersetzung) das I-Wort ohne Einordnung und ohne Kommentar vor, als wäre es das normalste Wort der Welt, es wird sich darüber lustig gemacht, was ein asiatisch aussehender Mann „in der Hose“ hat und beim Autokauf fällt der „ironische“ Spruch: „Einmal ´nen Schwarzen, immer ´nen Schwarzen!“ Diese Sätze beschreiben sehr gut den Humor des Autors, der auf mich wirkt, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nicht einmal seine männlich-weißen Privilegien hinterfragt und in den letzten Jahren aus irgendeinem Grund (wie ist das überhaupt möglich?) überhaupt nichts von den Diskursen über Sexismus, Rassismus und Fatshaming mitbekommen.

Am schlimmsten fand ich jedoch das problematische Frauenbild, den Sexismus und die Misogynie: Von den zahlreichen Figuren, aus deren Sicht erzählt wird, sind gerade einmal 2 weiblich – und natürlich treten fast alle Frauen nur als besorgte Mütter und verlassene Ehefrauen in Erscheinung; sie lieben ihre Kinder, sie trösten, sie kochen, sie trauern ihren Männern nach. Die Beschreibungen des Autors sind so dermaßen vom Male Gaze (= männlichen Blick) und von Sexismus geprägt, dass es für mich von Seite zu Seite unerträglicher wurde: Frauen werden mit läufigen Hündinnen verglichen, ihre Röcke sind „n+ttenkurz“, es gibt haufenweise Slutshaming, ständig werden ihre Brüste, Lippen, langen Beine im Detail beschrieben (warum wird eigentlich nie beschrieben, wie lang die Beine der Männer und wie eng ihre Hosen sind? Ach so, das sind ja keine Frauen und damit keine S+xobjekte, Entschuldigung, mein Fehler!), sie sind verrückt und lachen hysterisch und irre – und wenn sie beispielsweise in großer Gefahr schweben und gerade kurz davor sind, von einer ganzen Gruppe Männer vergewaltigt zu werden, ist der erste Gedanke, der ihnen durch den Kopf geht, natürlich der, dass sie es VERDIENT haben, weil ihr Kind entführt wurde. Hier merkt man einfach, dass es dem Autor überhaupt nicht gelingt, sich von seiner privilegierten Sicht heraus in die Lebensrealität von Frauen hineinzuversetzen.

Ich bin jedenfalls sehr enttäuscht (und auch etwas wütend) und frage mich: Warum werden solche Bücher im Jahr 2022 nicht nur veröffentlicht, sondern auch noch von deutschen Verlagen eingekauft und übersetzt? Dabei gäbe es doch so viele talentierte, junge Stimmen, die in ihren Geschichten nicht permanent marginalisierte Gruppen beleidigen und verletzen. Ich würde mir wünschen, dass man in der Zukunft stattdessen diesen Menschen eine Chance gibt!

Im Zentrum dieser -Ismen steht der jugendliche Möchtegern-Gangster Manny – aber auch die anderen Figuren sind nicht viel besser, weil der Sexismus (etc.) halt einfach schon im Schreibstil steckt und demnach das ganze Buch durchzieht. Ich hätte kein Problem damit gehabt, dass Manny so redet (und diese in der Realität nun einmal vorkommenden Probleme angesprochen werden), wenn andere Figuren diese Sprüche eingeordnet und kritisiert hätten, wenn es ein Gegengewicht gegeben hätte, wenn es nicht auch noch eine Figur gewesen wäre, mit der wir offensichtlich mitfühlen und uns identifizieren sollen. Bis auf eine Stelle gegen Ende, in der er sich auch noch transfeindlich äußert, gibt es niemals für ihn Gegenwind, sondern Betroffene lachen sogar noch herzlich über seine Sprüche und bestärken ihn. Das heißt, hier werden kommentarlos und vermutlich ohne jedes Bewusstsein für die Problematik munter Rassismus, Sexismus, Fatshaming und (selten) Homofeindlichkeit („Schw+nzlutscher“) reproduziert! Dieses Buch wirkt wie aus der Zeit gefallen, es liest sich wie aus den 90er-Jahren, wo über solche „Altherrenwitze“ noch herzlich gelacht wurde. In der heutigen Zeit geht so etwas meiner Meinung nach aber überhaupt nicht mehr! Ich kann mich nur wundern, dass ich in so gut wie keinen Rezensionen Kritik diesbezüglich höre und dass seine Bücher sowohl vom Feuilleton als auch von der Leser·innenschaft so begeistert aufgenommen werden.

Ich finde es sehr schade, dass mir die oben genannten Kritikpunkte die Lektüre so vermiest  haben, da die Geschichte eigentlich großes Potential gehabt hätte und da der Autor ohne Zweifel Talent hat und gut schreiben kann. Es waren viele gute Ansätze zu sehen, auch wenn das Buch trotzdem auch ein paar Schwächen aufweist. Bei der Figurenzeichnung arbeitet Chris Whitaker zwar (meiner Meinung nach zu oft) mit Klischees, aber im Laufe des Buches verleiht er seinen Charakteren Tiefe, Komplexität und Persönlichkeit. Auch wenn ich mir beim Schreibstil, der mir etwas zu dialoglastig war, stellenweise noch mehr Tiefe gewünscht hätte, ist er doch sehr flüssig, anschaulich und angenehm lesbar, sodass man nur so durch die Seiten fliegt. Das Setting mochte ich zudem wirklich gerne, denn diese typische Kleinstadt-Atmosphäre kam sehr gut rüber. Die abwechslungsreiche, interessante Themenwahl (die Themen reichen von Trauer über psychische Krankheiten bis hin zu Liebe und tragischen Schicksalen) fand ich ebenfalls gelungen – auch wenn manche Aspekte nur recht oberflächlich abgehandelt werden. Der Spannungsbogen bricht im Mittelteil immer wieder ein und die Handlung kommt nicht vom Fleck, aber das hätte ich verzeihen können, denn im letzten Viertel, das meiner Meinung nach das stärkste des ganzen Buches ist, gibt es noch einige überraschende Wendungen und der Autor führt alle losen Fäden zu einem gelungenen, hoffnungsvollen Ende, das mich zufrieden zurückließ.

„Das Schlimmste war die ständige Angst, dass bei jedem Klingeln des Telefons oder an der Haustür ein Polizist die Nachricht überbringen könnte, sie hätten eine Leiche gefunden.“ E-Book, Position 89

 

Mein Fazit

Eigentlich hätte ich „Was auf das Ende folgt“ drei Sterne gegeben, weil trotz der Schwächen (Klischees, fehlende Tiefe, Spannungseinbrüche) auch viele gute Ansätze erkennbar waren (Schreibstil, Figurenzeichnung, Plotentwicklung). Leider sind der das ganze Buch durchdringende Male Gaze, der Sexismus, der Rassismus, das Slutshaming und Fatshaming in meinen Augen unerträglich und unverzeihlich, sodass ich diesen Roman mehrmals abbrechen wollte. Durchgehalten habe ich nur, um am Ende diese fundierte Rezension schreiben zu können. Ich bin jedenfalls sehr enttäuscht und kann dieses Debüt leider nicht weiterempfehlen!

Bewertung

Idee: 4 Sterne
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Umsetzung: 2 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Wendungen: 4 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 1 Stern (!)
Einzigartigkeit: 3 Sterne

Insgesamt:

❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir zwei Sterne!