Rezension

Hinter den Fassaden des multikulturellen London

Kapital - John Lanchester

Kapital
von John Lanchester

Bewertet mit 5 Sternen

Londons Pepys Road gehörte einmal zu einem einfachen Arbeiterviertel. Im Haus der betagten Petunia hat sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Früher einmal konnte Petunia die Schuld daran auf ihren Mann schieben. Inzwischen will Petunia selbst keine Änderungen mehr, der Alltag ist ihr mit über achtzig Jahren Last genug. Der Banker Roger Yount ist gerade dabei, beruflich und privat über seine Einkünfte und Ausgaben den Überblick zu verlieren - er wird damit nicht der einzige Banker bleiben. Der kleine Lebensmittelladen in der Straße wird von den pakistanischen Brüdern Achmed, Usman und Shahid Kamal betrieben und symbolisiert das multikulturelle London mit Einwanderern aus aller Welt. Achmeds Familie nimmt in der Sraße die Rolle der Dienstleister ein, steht aber auch für die Hoffnung auf finanziellen und privaten Erfolg. Mit Achmed und seiner Frau Rohinka kann man sich an dem kleinen Glück freuen, wenn die Kinder morgens ein halbes Stündchen länger schlafen oder die fordernde Schwiegermutter wieder nach Lahore zurück reist.

Nach Bombenanschlägen mit islamistischem Motiv in England kann für ein Familienoberhaupt wie Achmed ein Familienmitglied zum ernsthaften Problem werden, das regelmäßig in die Moschee geht und einen Streit vom Zaun bricht, ob eine muslimische Familie in ihrem Laden Alkohol verkaufen sollte. Dienstleistungen bringt auch die Politesse Quentina aus Zimbabwe, die in der Hoffnung auf den Tod des Diktators Mugabe illegal in England lebt. Auch mit dem engmaschigen Netz, das Einwanderern ohne Papiere außerhalb der Legalität Arbeit und Wohnung verschafft, verdienen Dienstleister anderer Art ihren Lebensunterhalt. Bogdan aus Polen heisst in Wirklichkeit nicht Bogdan, aber seine Kunden können seinen Spitznamen leichter aussprechen. Bogdan erledigt als Ein-Mann-Bautrupp Maler- und Elektrikerarbeiten in den Häusern der Pepys Road. Er kennt seine Qualitäten im Vergleich zu einheimischen Handwerkern genau und ist ein liebenswert spöttischer Beobachter der englischen Mittelschicht. Für den Einkauf Freddy Kamos, des Fussball-Talents aus dem Senegal, wechseln schwindelerregend hohe Summen den Besitzer. Freddys Schicksal zeigt, dass es in John Lanchesters Roman zwar um die Gier auf schnöden Mammon geht, aber ebenso um die Hoffnung seiner Figuren, in London ihre Träume verwirklichen zu können.

Fazit
Aus privaten und geschäftlichen Beziehungen zwischen den Bewohnern der Pepys Road bildet Lanchester ein Mosaik der Einzelschicksale, das einen Blick hinter die Fassaden des multikulturellen London bietet. Eine Verbindung der Figuren schaffen auch die sonderbaren Postkarten, die die Anwohner in ihren Briefkästen finden. Die Reaktionen auf die Nachrichten sind so unterschiedlich wie die Persönlichkeiten der Empfänger. Dass hier jemand die Verhältnisse in der Straße zu gut kennt, als dass es sich allein um einen Scherz handeln könnte, benunruhigt inzwischen sogar die Polizei. Garniert mit kritischen Seitenhieben, z. B. auf die ineffektive britische Gesundheitsbürokratie, die Petunia die letzten Wochen ihres Lebens unnötig schwer macht, führt Lanchester seine zahlreichen Handlungsstränge souverän wieder zusammen. Der Autor, der als Lektor beim Penguin Verlag und als Redakteur einer Literaturzeitschrift tätig war, liebt seine Figuren spürbar. Dass ich unter Lanchesters Protagonisten Lieblingsfiguren entdecken konnte, ist einer der Gründe, warum das fast 700 Seiten starke "Kapital" eines meiner Highlights des Jahres 2013 war.

Kommentare

Sursulapitschi kommentierte am 08. März 2019 um 18:13

 

Das steht schon geraume Zeit in meinem Regal, ich sollte es mal heraussuchen...

Steve Kaminski kommentierte am 08. März 2019 um 18:42

Ich hab es geschenkt bekommen und dann hat mich der Titel eher abgeschreckt - aber es geht vor allem um ein Mosaik von Menschenschicksalen, wie Buchdoktor auch schreibt. Als ich es dann gelesen habe, hat es mir total gut gefallen.

lex kommentierte am 08. März 2019 um 18:17

Ist offenbar viel besser als "Die Mauer".  Vielleicht versuche ich es nochmal mit John Lanchester.

Buchdoktor kommentierte am 08. März 2019 um 18:41

Es geht um ganz normale Leute, vielleicht identifiziert man sich mit denen leichter ...