Rezension

Latente Spannung, eine abstoßende Figur & bedrohliche Atmosphäre

Ich will dir nah sein -

Ich will dir nah sein
von Sarah Nisi

Bewertet mit 4 Sternen

Lester Sharp arbeitet im Fundbüro und ist außerdem sonderbar. Als er seinen neuen Nachbarin Erin begegnet, weiß er, dass es Schicksal ist. Er will ihr nah sein. Näher als es gut für Erin ist.

„Ich will dir nah sein“ ist ein feiner Psychothriller, der äußerst geschickt mit den Elementen des Genres spielt. 

Lester arbeitet im Fundbüro und liebt seinen Job. Hier katalogisiert er verlorene Gegenstände und ist von ihnen fasziniert. Egal ob es Schlüssel, Handys oder medizinische Gerätschaften sind, er entwickelt eine eigenartige Beziehung dazu, und er ist eindeutig ein Sonderling. Darüber hinaus ist Lester nicht nur in der Arbeit sonderbar, sondern er tut sich schwer, zwischenmenschliche Beziehungen richtig zu interpretieren. Ein freundliches Lächeln da, ermutigt ihn, und ein verzweifelt ausgestoßenes „Nein“ spornt ihn mehr an. Erst recht, wenn er denkt, dass es - wie bei der neuen Nachbarin Erin - Schicksal ist. 

Bei dem Buch hat mich der Klappentext neugierig gemacht. Mein erster Gedanke war, dass es nach einem guten Thriller klingt und dieses Versprechen hat der Roman gehalten. 

Als Leser taucht man in Lesters gestörte Wahrnehmung ein. Viele Passagen werden aus seiner Perspektive erzählt und dementsprechend ist man bei diesen verkehrten Gedankengängen live dabei. 

Anfangs ist es unschuldig. Lester wirkt wie ein merkwürdiger Kauz, der sich zu intensiv für die verlorenen Gegenstände in seinem Job interessiert. Doch je länger man ihn begleitet, desto tiefer taucht man in die wirren Überlegungen ein, und ahnt, dass es erst die Spitze des Eisbergs ist.

Lester hat mich total abgestoßen. Ich habe ihn als extrem widerliche Person empfunden, bei dessen räumlicher Nähe man körperlich auf den Ekel reagiert. Seine Wahrnehmung ist absolut verdreht, er interpretiert kleinste Gesten falsch und wird dadurch zu einer Bedrohung, der man nicht im Treppenhaus begegnen will. 

Gleichzeitig hatte ich Mitleid mit ihm, weil in seiner Illusion alles seine Richtigkeit hat. Er handelt so, wie er denkt, dass es angebracht ist, und begreift nur am Rande, dass er regelmäßig Grenzen übertritt. 

Die neue Nachbarin Erin hat es ihm angetan. Nach ihrem Einzug erlebt man Lester voll befremdlichen Elan und manche Szenen haben etwas Beängstigendes. Ich bin mir relativ sicher, dass es solche Menschen wie ihn wirklich gibt, was mir schon arg zu denken gibt. 

Zudem erhält man Einblick in Erins Leben, was die Handlung zusätzlich aufpeppt und ihr zum Ende hin eine bizarre Wendung verleiht. 

Ich habe den Thriller gebannt gelesen, weil Lesters Ekelfaktor und seine abnormalen Gedankengänge fesselnd sind. Vom merkwürdigen Sonderling wandelt er sich zur - meiner Ansicht nach - realistischen Bedrohung, was dem Thriller ordentlich Spannung verleiht.

Der Handlungsaufbau ist einem Psychothriller entsprechend. Es ist eher ruhig und die Spannung baut sich unterschwellig auf. Erins Leben liegt in Lesters Hand, obwohl die Nachbarin nicht ahnt, welcher unscheinbaren Bedrohung sie ausgesetzt ist. Zum Schluss wartet die Autorin mit einem gut konstruierten, überraschenden Ende auf, das mir gefallen hat.

„Ich will dir nah sein“ ist ein fesselnder Psychothriller, der meiner Meinung nach mit latenter Spannung, einer abstoßenden Figur und bedrohlicher Atmosphäre an die Seiten bannt.