Rezension

Lebenszyklus auf den Schären - Finnische Literatur

Eis - Ulla-Lena Lundberg

Eis
von Ulla-Lena Lundberg

Bewertet mit 5 Sternen

In einer verschworenen Dorfgemeinschaft gilt man als Hiesiger nur, wenn man dort geboren ist. Als irgendwie dazu gehörig darf man sich in der Regel fühlen, wenn man nach mehr als fünfundzwanzig Jahren Ortsansässigkeit das Attribut „zugezogen“ in aller Bescheidenheit akzeptiert.

Um so erfreulicher ist es, wie herzlich die schwedischsprachigen Einheimischen der finnischen Insel Örar, irgendwo in der Ostsee und kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, den neuen Anwärter auf das Pfarrersamt, Petter Kummel, mitsamt seiner kleinen Familie aufnehmen. Und tatsächlich gehören sie bald dazu. Zwar dringt der Pfarrer nicht bis in den innersten Kern der Wesenheit der Schären vor so wie Post-Anton und er darf sich auch insoweit nicht mit ihnen gemein machen, dass er sich an der Beute des Alkoholschmuggels gütlich tut, doch mit seiner schlichten Art, den Glauben zwar kund zu tun, aber nicht aufzudrängen und ihren Aberglauben als Volksglauben zu titulieren und stehen zu lassen, hat er ihre Herzen in kürzester Zeit gewonnen.

Die Pfarrersfamilie richtet sich ein, „eigene Routinen zu haben, das ist das Schönste, was einem Menschen einfallen kann, der sich an alle möglichen Wechselfälle anpassen musste, über die er keine Kontrolle hatte.“ Sie lebt wie die Einheimischen auch im Einklang mit der Natur, besonders die tüchtige Pfarrfrau, die etwas von der Landwirtschaft und Milchkühen versteht, imponiert. Im Frühjahr wird ausgesät, vorbereitet und geschuftet und im Juli ist sie die erste, die die Mahd einbringt. Gäste fluten die Insel im Sommer, Seglertouristen verlangen Betreuungszeit und Sightseeing, „und ein paar von ihnen besuchen am Sonntag sogar die Kirche und sitzen leutselig da wie Weiße unter Eingeborenen.“ Die Verwandtschaft fällt ein in Scharen und wird von Mona, der Pfarrersgattin, beköstigt, widerwillig gratis erteilte Kost und Logis. Die große Liebe unter den Eheleuten bricht sich nur geregelt, aber dann ungezügelt Bahn, denn Schwangerschaften plant die taffe Mona genau und Enthaltsamkeit ist immer noch die beste Verhütung.

So weit im Norden ist das Eis fast eine weitere Jahreszeit. Wenn die Eisdecke erst einmal dick und fest ist, kommt das gesellschaftliche Leben der Inseln in Schwung, die Wege werden kürzer und hui, man saust übers Eis und besucht sich, endlich einmal unter sich, denn wer will im Winter auf den öden Inseln sein. Der Winter ist gemächlicher als die hektische Fangsaison im Herbst, wo der Fisch das Leben bestimmt und die Landwirtschaft zu Monas Unverständnis eher nebenbei betrieben wird, jedoch ohne Leidenschaft, denn der „Fisch ist ihr Lebensinhalt, aus dem Fisch beziehen sie ihr Selbstbild, ihre Identität und die Bilder, die ihr Leben illustrieren.“

Kaum ein Job der Insulaner ist ungefährlich, aber manche sind geradezu heroisch, so wenn Anton sich übers Eis begibt und bei jedem Wetter die Post über die Schären verteilt, kein Wunder, dass er sich mit übernatürlichen Kräften im Bunde wähnt. Er spürt kommendes Unheil als erster. Oder wenn die Lotsen und die Küstenwache sich auch in der Heiligen Nacht aufmachen, um Überlebende des gesunkenen Schiffes Park Victory zu bergen. So geschehen anno 1947 vor Utö.

Die Autorin verleiht jedem eine Stimme, der Leser ist genau so ins Inselleben integriert wie Pfarrers, Krankheit, Tod, neues Leben und Taufe, gute Ehen, schlechte Ehen, Konkurrenzkämpfe, Bauprojekte, Ehrgeiz; Vergewaltigung, Sodomie, Tyrannei, aber auch Nachbarschaftshilfe und Geselligkeit, gutes Essen und Frieden sowie Freiheit und Einssein mit der Natur. Der Leser immer mittendrin im Wechsel der Jahreszeiten. Innerer Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens ist die Kirche, die nicht immer tröstet und hilft, aber eben da ist und Beständigkeit vermittelt.

Als der Pfarrer aufs Festland muss, um sein Examen abzulegen, und an der Werft vorbeikommt, finden auch die Reparationszahlungen an die Sowjetunion Erwähnung, jedes einzelne der neu produzierten Schiffe wird hinter dem Eisernen Vorhang verschwinden, evtl. die Werftanlage mit dazu. Dass das politische Weltgeschehen die Menschen angeht, wird auch am Beispiel der aus Russland geflüchteten Ärztin deutlich, die ihre Vergangenheit nur mit sorgsam dosierter Droge ertragen kann.

Ulla-Lena Lundberg hat mit EIS einen wunderbaren Roman geschaffen über das harte, manchmal eintönige, aber immer wieder herausfordernde Leben der Menschen in der Schärenwelt. Ihre Charaktere sind einzigartig beschrieben, ihre Sprache von herausragender Eindringlichkeit mit besonderen, nachdenklichen und tiefen Bildern. Wer behauptet, dieses Buch hätte Längen, begreift nicht, wie geschickt Lundberg die Jahreszeiten ihres Romans nachahmt. So bekommt der im Norden flüchtige Frühling nur ein paar Sätze ab, Sommer und Herbst werden ausführlicher geschildert und der Winter ist am raumgreifendsten.

Fazit: Authentisch, schön, tragisch, gewaltig, alles. Großartig!

Kategorie: gehobene Literatur
Mareverlag

Kommentare

LySch kommentierte am 24. September 2017 um 09:07

Auch hier war ich jetzt neugierig, wie genau du Arbutus überzeugen konntest und ich bin nun auch in die Falle getappt! :D Noch so eine wunderschöne Rezi zu diesem Buch!! :) Das muss dringend diesen Winter endlich einziehen und gelesen werden ;)