Rezension

Mein Lesehighlight 2022

Das Leben vor uns -

Das Leben vor uns
von Kristina Gorcheva-Newberry

Bewertet mit 5 Sternen

Anja Ranewa und Milka Putowa sind schon von klein auf beste Freundinnen. Sie besuchen die gleiche Schule, verbringen fast jeden Nachmittag miteinander, fahren sogar gemeinsam in die Ferien. Anja wohnt mit ihren Eltern und ihrer Großmutter in einer kleinen Wohnung, Milka ebenfalls beengt mit Mutter und Stiefvater, beide am Stadtrand von Moskau. 

Beim Einstieg in den Roman sind die Freundinnen 14 Jahre alt, es ist 1982. Kristina Gorcheva-Newberry erzählt mit ganz viel Gefühl und Detailreichtum vom Aufwachsen in Moskau sowie von den Aufenthalten in der Datscha, wo der angenehme Teil des Lebens stattfindet. Man bewirtschaftet den Boden, kümmert sich um die wunderbaren Apfelbäume, die dem harten Winter trotzen und himmlisches Mus ergeben. Die Autorin bringt die Leser:innen ganz nah an ihre Protagonisten heran, so dass ich mich schon fast wie ein Familienmitglied fühlte. 

In der gesamten Geschichte, die zunächst nur vom Erwachsenwerden und von erwachender Sexualität zu berichten scheint, schwingt sowohl inhaltlich als auch sprachlich die Liebe zur Literatur mit. Es wird eine herrliche Parallele zwischen der Datscha und Tschechows Theaterstück "Der Kirschgarten" gezeichnet. Darüberhinaus werden ganz nebenbei die Herausforderungen des Lebens in der Sowjetunion skizziert. Dabei werden die politischen Verhältnisse und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Menschen genauso thematisiert wie die Probleme während des Zerfalls und des aufkommenden Kapitalismus. Dieser gesellschaftskritische Blick auf das Vorher wie auch auf das Neue bis ins Heute hinein erschien mir sehr ausgewogen.

Der Roman brachte allerdings auch ein paar Schreckensmomente mit sich, die mir stark ans Herz gegangen sind, die für mich kaum auszuhalten waren. Ich las unter Tränen weiter und wurde mit meinem Lesehighlight 2022 belohnt. Die Autorin formuliert unzählige wunderbare Sätze, wie diesen hier: „Seit meiner Kindheit liebte ich die frühen Morgenstunden, wenn der Tag neu war und hunderte kleiner, zusammengefalteter Träume enthielt, wie Blütenblätter in einer Blume.“. Sie hat mich insgesamt tief berührt. Ihren Schilderungen zum verlorenen „Heimatland“ kann ich ausnahmslos folgen. Alles ist geprägt von einer hohen Authentizität und Glaubwürdigkeit.

„Das Leben vor uns“ hat mich begeistert, ich kann diesen Roman nur empfehlen.