Rezension

Zauberhafter Künstlerroman

Leinsee
von Anne Reinecke

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Selbstmord in der Familie ist nur schwer zu verkraften. Bei Karl Stiegenauer, Hauptfigur dieses Romans, ist die Sache jedoch weitaus komplizierter. Sein Vater August hat sich erhängt, weil er ohne seine Frau Ada, die an Krebs erkrankt ist, nicht mehr leben wollte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie die Operation überlebt. Im Leben dieses berühmten Künstlerpaars war für Karl schon als Kind kein Platz. Kein Wunder, dass ihn die Rückkehr in sein Elternhaus in Leinsee überfordert.

Der einzige Halt für ihn ist die achtjährige Tanja, die eines Tages ganz plötzlich im Kirschbaum seines Gartens sitzt und ihn beim Entrümpeln beobachtet. Gerade weil Karl sein Leben im Moment so absurd und surreal vorkommt, passt die Erscheinung des Mädchens, das lauter verrückte Dinge anstellt wie Steinformationen in seinem Garten zu bilden, so gut ins Bild.

Ich war ganz fasziniert von der ungewöhnlichen Beziehung, die sich langsam zwischen ihnen aufbaut. Es bedarf keiner Worte – allein die Präsenz des anderen in der Nähe zu spüren macht die beiden glücklich. Die Rückkehr in seine Heimat und die Begegnung mit Tanja bringt Karl nicht nur dazu, sich den Erinnerungen an eine einsame Kindheit zu stellen, sondern entfacht auch sein künstlerisches Schaffen.

Der Roman hat mich auf der ganzen Linie begeistert: die gut ausgearbeiteten, teils skurrilen Figuren, allen voran der eigenbrötlerische und doch sympathische Karl, der seinen Lebenssinn und seine Heimat neuentdeckt, die Seitenhiebe auf die sich wichtig nehmende Kunstszene und den Promikult, der schwarze Humor (selten wurde ein Polizeibesuch so ungemein witzig beschrieben), Reineckes prägnante und der Situation angepassten Sprache, aber vor allem die bezaubernde Poesie, die sich in der abstrusen und tragikomischen Handlung entfaltet.