Rezension

Als wir unsterblich waren - absoluter literarischer Hochgenuss.

Als wir unsterblich waren - Charlotte Roth

Als wir unsterblich waren
von Charlotte Roth

Es gibt diese Zeit - da gehört dir die Welt.

"Schalten Sie um aufs Erste! Sie bekommen doch West-Fernsehen hier, oder? Da passiert ein ganz großes Ding - die Mauer ist offen. Die lassen uns rüber. Wir müssen dahin!" Als ihre Freundin Meike mit diesen Worten durch die Wohnung stürmt, weiß Alexandra Liebermann noch nicht, dass nicht nur ihr Vaterland sondern auch ihr Lebensschicksal eine komplette Wende erfahren wird. Die junge Völkerkundestudentin teilt mit ihrer Großmutter, die sie liebevoll Momi nennt, eine kleine Wohnung im Osten von Berlin und fühlt sich sicher in einem Dasein, das ihr vertraut und voraussehbar scheint. Aber dieser 9. November 1989, der die Welt verändert, der Emotionen von ungeahnter Intensität auslöst, zieht sie mit, spült ihre heimliche Angst vor plötzlicher, unbekannter Veränderung davon und lässt sie über die ehemalige Grenze hinweg auf Oliver Schramm treffen, den jungen West-Studenten, der Geschichte studiert und dessen eigene Vergangenheit viel mehr Berührungspunkte mit Alexandra hat als sie zu ahnen vermag.

 Aber Momi kennt die Verbindung zu der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, zu dem charismatischen Studentenführer Clemens Kamphausen und der jungen Frauenrechtlerin Paula Thomas, die, eingebunden in einen treuen Freundeskreis, mit ihrer Liebe und einer Kraft, die unsterblich zu machen schien, gemeinsam für eine bessere Welt kämpften. Nur Momi  birgt tief im Innern noch das Wissen um die leuchtenden Stunden dieser Vergangenheit, aber auch um das Dunkle, Verdorbene, Böse und um die Schuld aus jener Zeit, die erneut zur Bedrohung zu werden scheint. Kommt beendet Geglaubtes jetzt zurück, hatte ein schicksalsbelastetes Stück Leben hierfür nicht ausgereicht?

Charlotte Roth hat hier einen großen Abschnitt deutscher Zeitgeschichte meisterhaft recherchiert und als Grundlage für diesen eindrucksvollen Roman genommen. Der Bogen spannt sich vom Ende der Monarchie über den ersten Weltkrieg hinweg bis hin zur folgenschwersten Inthronisation , die je stattgefunden hat, als Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler macht, und die Machtbefugnisse der braunen Rotten damit so manifestiert, dass die hoffnungslos gespaltenen Arbeiterparteien ihnen als hilflos geschwächter Gegner keinen Widerstand entgegen zu setzen vermochten.

Lebensnahe, wunderbar charakterisierte Protagonisten, deren Schicksal der Leser voll Spannung, Anteilnahme und Bewunderung verfolgt, sind das wahrhafte Gerüst dieses herausragenden Buches. Das breite Spektrum ihrer menschlichen Verhaltensweisen, ihre so leicht nachvollziehbaren Reaktionen, Gefühle und Neigungen sind bunt und vielfältig, mit schriftstellerischer Lust und Eindringlichkeit gezeichnet.

Diesem Buch kann sich der Leser nicht entziehen, es erreicht ihn auf mannigfaltige Art - wenn es nicht das fesselnde Zeitgeschehen ist, das ihn gefangen nimmt, so sind es die Menschen, die diese Zeit unsterblich und auch schuldig zu machen vermochte.

Ein Roman, der seinen Reichtum nicht für sich behält sondern mit jeder Zeile weitergibt und lange nachklingt wie gute Musik - berührend und wunderschön.