Rezension

Das leere Nest

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe -

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
von Doris Knecht

Bewertet mit 4 Sternen

Wenn die achtzehnjährigen Zwillinge Max und Mila nach dem Abitur ausziehen, wird die Familienwohnung für Doris Knechts Icherzählerin zu groß und zu teuer sein. Mit dem drohenden Empty Nest Syndrom im Hinterkopf nimmt sie ihr Immobilienproblem als Chance in Angriff. Eine kleinere Wohnung wäre teurer als der ewig nicht renovierte Altbau. Die als Schreibzimmer gemietete 40m²-„Werkstatt“ ist zu klein, wenn eine Frau Kinder und dazu vier Schwestern hat, die sie zu sich einladen will. Möchte sie überhaupt eine Wohnung, die zu klein sein wird, falls eines der Kinder in der Not einmal bei ihr unterkommen müsste? Das einfache Haus auf dem Land ist  eben nur ein Sommerhaus. Dass die neue Wohnung bitte im alten Stadtviertel liegen sollte, macht das Projekt Verkleinerung nicht leichter.
 
Der Wendepunkt im Leben der alleinerziehenden Mutter und der beiden Studienanfänger wirkt zunächst wie ein Luxusproblem, zeigt jedoch eindringlich die Aufsteiger-Biografie der fast 50-jährigen Protagonistin. Ihre Eltern lebten bescheiden, stets zufrieden und reagierten daher verwundert auf den Drang ihrer Ältesten, Abitur zu machen und die katholische Provinz hinter sich zu lassen. Zwei Paare von Zwillingsschwestern waren stets die braven, die den Eltern nacheiferten. Nur um die Icherzählerin sorgen die Eltern sich bis heute, ob ein Mann im Haus nicht besser für sie wäre. Neben dem Rückblick in eine Kindheit, in der sie neben dem Schwesternrudel unsichtbar blieb, konfrontiert sie die mentale Entrümpelung mit Verlusten, über die sie nie sprach. Die Rückenstärkung ihrer Freundin Hansi damals kann sie erst im Rückblick wertschätzen. Für eine Person, die meist negativ urteilt oder sich abgelehnt  fühlt,  schien mir das der entscheidende Befreiungsschlag vor der Folie des  Immobilien-Roulettes zu sein.  Die Dominanz der Zwillingspaare wirkt beinahe grotesk; wenn Zwillingkinder wieder Zwillinge bekommen und selbst die liebste Mit-Kindergartenmutter Zwillingsmutter ist.
 
Die Phase der Entrümpelung in jeder Hinsicht und der Verkleinerung des Haushalts auf das unbedingt Nötige wird für Doris Knechts Icherzählerin zum Katalysator für die  Auseinandersetzung mit ihrer Herkunftsfamilie, dem Alleinerziehen und mit dem Erinnern aus unterschiedlicher Perspektive. Eltern erwachsener Kinder, ob sie sich nun Nestflüchter oder Nesthocker als Kinder wünschen, werden sich  hier wiedererkennen.