Rezension

Der Weg nach Ithaka

Die Sommer mit Lulu - Peter Nichols

Die Sommer mit Lulu
von Peter Nichols

Bewertet mit 4 Sternen

Mit dem Gedicht „Ithaka“ des griechischen Dichters Konstantinos Kavafis beginnt der Roman.
„Und alt geworden lege auf der Insel an,
reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst, 
und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.“
Es ist die Suche nach Odysseus´ Reiseroute, die den jungen Engländer Gerald 1948 schließlich nach Cala Marsopa (dem tatsächlichen Cala Ratjada) im Osten der Insel Mallorca führt. Die Idee, die mythischen Orte im realen Raum zu verorten, ist ihm auf seinen Fahrten durch das Mittelmeer an Bord verschiedener Kreuzer während des zweiten Weltkriegs gekommen.
1947 macht er sich mit seiner kleinen Segeljacht Nereide auf die Fahrt und segelt auch weit nach Westen, eher um die Inselgruppe der Balearen als Schauplatz von Homers Epos auszuschließen, als in der Hoffnung, dort etwas zu finden.
Aus der kurzen Stippvisite wird der Rest seines Lebens. 
Denn wie die Zauberin Kirke einst Odysseus, schlägt hier auf Mallorca die schöne Engländerin Lulu Gerald in ihren Bann. Doch anders als der antike Held, vermag dieser sich nie wirklich daraus zu befreien. Lulu ist eigensinnig, egozentrisch und strotzt vor sexueller Anziehungskraft. Mehr als der Mensch Gerald fasziniert sie der romantische Abenteurer, der auf seiner Suche die Meere durchsegelt. Sie will ihn heiraten, sie bekommt ihn. Als er sich auf der Hochzeitsreise, natürlich an Bord der Nereide, aber einmal vermeintlich nicht ganz so heldenhaft zeigt, verlässt sie ihn wutentbrannt und verweigert fortan jedes Gespräch, jeden Kontakt. 
Gerald bleibt dennoch auf der Insel, kauft ein altes Haus in unmittelbarer Nähe zu Lulus Domizil, das sie im Laufe der Jahre zu einem florierenden Gästehaus, vor allem für ihre englischen Landsleute umbaut. Beide heiraten wieder, bekommen Nachwuchs, vermeiden aber weiterhin jeden Kontakt.
Was ist damals passiert, das die beiden Frischverheirateten auf so unerbittliche Weise voneinander trennte? Das ist die große Frage, die hinter dem Erzählten steht und die den Leser bis zum Ende in Spannung hält. 
Wir bekommen die Geschichte von Gerald und Lulu, ihrer Kinder Aegina und Luc, ihrer Lebenspartner, Freunde und Gäste nämlich rückwärts erzählt. Ausgehend von einem tragischen Zusammentreffen der beiden über Achtzigjährigen im Jahr 2005, das mit einem Streit, einem Unfall und dem Tod von Lulu und Gerald endet, schreiten wir in unregelmäßigen Abständen rückwärts, verfolgen den 70. Geburtstag, feiern mit Gerald die erfolgreiche Neuauflage seines Odysseus Buch „Der Weg nach Ithaka“, erleben Lulu als Geschäftsfrau in ihrem Hotel und Gerald als Olivenbauern, als Ehepartner und Eltern, begleiten auch die Kinder Aegina und Luc. Es sind besondere Schlaglichter, die auf bestimmte Lebensabschnitte geworfen werden. Der allwissende Erzähler schwenkt in der Perspektive von der einen Figur auf die andere. Wir lernen sie allesamt recht gut kennen, kommen aber keiner wirklich nahe. Besonders entrückt scheint Lulu, ein schwieriger, selbstsüchtiger Charakter. Im Originaltitel „The Rocks“ ist es auch nicht sie, sondern ihr Hotel, Mittel- und Treffpunkt der kleinen mallorquinischen Gemeinschaft, das dem Buch seinen Titel gab.
Der besondere Aufbau macht den größten Reiz des Buches aus. Er führt zu noch sorgfältigerem Lesen, weiß man doch nie, welchem erzählten Detail eine besondere Bedeutung zukommt. Die Spannung hält bis zum Schluss, auch wenn die tatsächliche Auflösung des Rätsels eher enttäuschend ist. Aber wie bei Homers Odyssee und eigentlich jeder richtigen Reise ist es ja eher der Weg als das Ziel worauf es ankommt. Das ist von Peter Nichols meisterhaft gemacht.
Nicht ganz so meisterhaft ist oft Nichols Sprache, die doch einige Redundanzen aufweist. Allerdings gelingt es ihm, das Flair von Mallorca, die heißen Sommertage, das sich jedes Jahr erneut treffende Völkchen der Stammurlauber, die Olivenhaine, die Landschaft und das Meer so plastisch heraufzubeschwören, dass man am liebsten selbst die Segel setzen möchte. Wenn nicht nach Ithaka, so doch zumindest nach Süden.