Rezension

Reise in die Vergangenheit

Die Sommer mit Lulu - Peter Nichols

Die Sommer mit Lulu
von Peter Nichols

Bewertet mit 4 Sternen

Im Mittelpunkt von Peter Nicholls Roman “Die Sommer mit Lulu“ stehen zwei Personen: Lulu Davenport und Gerald Rutledge. Ihre kurze Ehe endete noch während der Hochzeitsreise vor knapp 60 Jahren im Jahr 1948. Beide leben noch immer in einem kleinen Ort auf Mallorca, sind einander aber jahrzehntelang erfolgreich aus dem Weg gegangen. Eines Tages begegnen sie sich im Ort. Während Lulu ihren Ehemann hasserfüllt mit einem unflätigen Wortschwall überschüttet, sucht Gerald das Gespräch. Seit fast 60 Jahren versucht er, seiner Ex-Frau zu erklären, was damals wirklich geschah. Er folgt ihr. Es kommt zu einem heftigen Wortwechsel, und beide stürzen von den Klippen von Cala Marsopa ins Meer. 
Mit dem Tod der Protagonisten nimmt der Autor das Ende vorweg. Was bleibt, ist zu berichten, was schon passiert ist, nicht, was passieren wird. Der Autor wählt dafür eine ungewöhnliche Erzählstruktur. Er erzählt die Geschichte rückwärts, beginnend im Jahr 2005 mit dem Tod der Ex-Partner, über die Etappen 1995, 1983, 1970,1966, 1956, August 1948, als ein bis zum Schluss nicht enthülltes Ereignis das Paar für immer trennte. Als Leser verfolgen wir die Geschichte, sind gespannt auf die Auflösung, die dann allerdings weniger spektakulär ist als vermutet, zumal man zum Ende hin durch Andeutungen schon eine Ahnung hat, worum es geht. 
Außer der Geschichte von Lulu und Gerald erfahren wir auch von der über Jahrzehnte unerfüllten Liebe ihrer Kinder aus der jeweils zweiten Ehe: Lulus Sohn Luc und Geralds Tochter Aegina. Es gibt eine Vielzahl weiterer Figuren, über deren Schicksal und Lebensumstände wir informiert werden. Die meisten von ihnen verbringen viele Jahre lang jeden Sommer in dem von Lulu geführten kleinen Hotel Los Roques. Der deutsche Titel scheint sich darauf zu beziehen und nicht auf die nur wenige Tage dauernde Ehe von Lulu und Gerald im August 1948. 
Der Autor behandelt eine Vielzahl von Themen neben den beiden Liebesgeschichten der vier Hauptpersonen. Das sind einmal die Beschreibungen einer wunderschönen Insel im Mittelmeer vor dem Massentourismus und dem Bauboom, die den Leser ahnen lassen, wie schön Mallorca einmal war. Zum anderen gibt es Nebenthemen wie einen betrügerischen Grundstücksdeal, dem Gerald zum Opfer fällt, Drogenschmuggel aus Marokko und immer wieder Homers Odyssee und das Segeln auf Odysseus´ Spuren. Hier fließt viel Autobiographisches ein, denn auch Peter Nichols ist ein begeisterter Segler und hat wohl teilweise ähnliches erlebt. 
Von den Charakteren überzeugt mich Gerald am meisten. Lulu war die Liebe seines Lebens. Er kann die Vergangenheit nicht loslassen und verzweifelt darüber, dass sie ihn nie erklären lässt, dass er das Richtige gewollt und letztlich auch getan hat. Lulu ist ein ziemlich unsympathischer Charakter. Sie ist egozentrisch und kalt und benutzt vor allem ihre Schönheit bis ins hohe Alter für ihre Zwecke. Die Männer liegen ihr ein Leben lang zu Füßen. Nicht nur ihr Verhalten gegenüber Gerald schockiert den Leser. Auch die Art und Weise, wie sie ihren zweiten Mann Bernard nach kurzer Ehe abserviert und ihm die Möglichkeit nimmt, seinen Sohn aufwachsen zu sehen, spricht nicht für sie. 
Der umfangreiche Roman erfordert ein gewisses Durchhaltevermögen. Am Schluss gibt es einen positiven Ausblick, denn der Autor mogelt ein bisschen mit der Zeitstruktur. Er geht noch einmal zum Jahr 2005 zurück und berichtet nicht nur über Lulus und Geralds Beerdigung, sondern auch über eine mögliche Zukunft für ihre Kinder. Mir hat der Roman mit kleinen Abstrichen gefallen.