Rezension

Eines meiner Jahreshighlights

Die Stille meiner Worte - Ava Reed

Die Stille meiner Worte
von Ava Reed

Bewertet mit 5 Sternen

Der Inhalt ist schnell erzählt: Hannah verliert ihre Zwillingsschwester bei einem Unfall und hat seither kein Wort mehr gesprochen. Weil ihre Eltern nicht mehr weiter wissen, schicken sie Hannah in ein Internat, das Jugendlichen in Krisen ein neues Zuhause gibt. Damit sich die Jugendlichen etwas besser kennenlernen, fahren sie gemeinsam campen. 
Die Handlung wird vor allem von der Frage bestimmt, ob oder wie Hannah wieder zurück ins Leben findet. Die Handlung spielt sich hier viel zwischen den Zeilen ab. Wenn es darum geht, dass Charaktere etwas aktiv tun, passiert hier verhältnismäßig wenig. 
Indirekt, also zwischen den Zeilen wird es aber sehr emotional. Denn Die Stille meiner Worte wird nicht von der Handlung, sondern vor allem von den Charakteren getragen. 
Der Roman hat zwei Protagonisten. Zum einen Hannah, die gerade mitten in der Krise steckt. Sie hat nicht nur ihre Schwester verloren, sondern auch überdimensional große Schuldgefühle. Ihre Verletzlichkeit wurde von Ava Reed wirklich gut herausgearbeitet. Hannah hat mich unglaublich bewegt, weil ich ihr Leid nur schwer ertragen konnte. 
Protagonist Nummer zwei ist Levi. Er ist zum letzten Mal im Camp dabei und weiß, dass er das Internat bald verlassen muss. Er hat nämlich nicht nur die Schule beendet, sondern auch seine Krise überwunden. Aber auch ihm steht ein schwieriger Schritt bevor. Nämlich der wichtige Schritt zurück ins Leben. Doch als er Hannah kennenlernt, kommen alte Erinnerungen hoch... 
Wenn man den Klappentext so liest, könnte man mit der Stirn runzeln und sich fragen, warum eine so bewegende Geschichte auch noch eine Liebesgeschichte braucht. Das Schöne an Die Stille meiner Worte ist, dass Liebe hier keine primäre Rolle spielt. Es geht mehr darum, Hannah jemanden gegenüberzustellen, der es schafft, wieder einen Zugang zu ihr zu bekommen. Eine Liebesgeschichte wird hier maximal angedeutet, wobei das auch eher Interpretationssache ist. Das gefällt mir besonders gut, weil so die eigentliche Handlung, nämlich die Interaktion zwischen Hannah und Levi im Vordergrund steht. 
Ava Reed hat in ihrem Roman einen Nebencharakter erschaffen, der mich nicht nur zum schmunzeln brachte, sondern unglaublich wichtig für die Geschichte ist. Hannah hat nämlich gezwungenermaßen den Kater ihrer Schwester geerbt. Dieser Kater bewirkt durch seine bloße Anwesenheit unglaublich viel. Nebencharaktere haben sonst meist die Funktion, den Protagonisten indirekt bei der Lösung einer Aufgabe zu helfen. Entweder sie steuern Ideen bei, auf die der/die Protagonist*in nicht kommt, oder versuchen anderweitig zu helfen. Hannahs Kater hingegen ist einfach nur da. Und dieses Da sein sorgt dafür, dass sich Personen öffnen können. 
Kommen wir nun zur Hörbuch Gestaltung: Einerseits freut es mich tierisch, dass ich diesen Titel als Hörbuch hören konnte. Andererseits finde ich es unglaublich schade, dass dieses wunderbare Hörbuch nicht im Buchhandel erschienen, sondern nur Audible Hörer*innen zugänglich ist. Somit ist die Zielgruppe, die diesen Titel entdecken könnte, von vorne herein eingeschränkt. Dennoch freut es mich, dass Audible das Hörbuch ungekürzt produziert hat. 
Gelesen wird die Geschichte von Shandra Schadt, die ich bisher als Sprecherin von Tote Mädchen lügen nicht kannte. Dort interpretiert sie hart und wirkt sehr kühl. In Die Stille meiner Worte hingegen hat sie eine weiche Seite gezeigt und damit Hannahs Verzweiflung und ihre Zerbrechlichkeit unglaublich gut herausgearbeitet. 
Ava Reed hat mich mit ihrem Schreibstil schnell für such gewinnen können. Sie erzählt die Geschichte sowohl aus Hannahs als auch aus Levis Perspektive. Beide Handlungsstränge sind in der Ich-Perspektive und in Präsens geschrieben. Bei Hannahs Kapiteln gibt es immer einen Brief an ihre Schwester Izzy. Manchmal ist es wirklich ein klassischer Brief. Manchmal sind es aber auch nur zwei oder drei Sätze. 
Was mich an Ava Reed Schreibstil ziemlich beeindruckt ist nicht nur, wie sie Hannahs Gefühlsleben herausarbeitet, sondern auch, dass sie es schafft, Stück für Stück zu beschreiben, wie Hannah ins Leben findet. Schön war hier vor allem, dass Hannahs Schritte zwar klein, aber deutlich sichtbar sind. Zum einen konnte ich sie spüren. Zum anderen wurden sie aber auch klar benannt, wobei diese Erklärungen nur den Bruchteil von dem in Worte fassten, was ich gespürt habe. Spannend fand ich hier, dass es bezogen auf den Roman funktionierte. Bisher dachte ich immer, dass man sowohl die Leser*innen, die zwischen den Zeilen lesen können, aber auch die Leser*innen, die eher rational unterwegs sind, miteinbeziehen muss. 
Gesamteindruck
Die Stille meiner Worte ist ein unglaublich emotionale und bewegende Geschichte, die ich denjenigen unter euch weiterempfehlen kann, die zwischen den Zeilen lesen und emotionale Geschichten aushalten können.