Rezension

Entführt, gefangen ... verliebt?

Du liebst mich nicht - Edeet Ravel

Du liebst mich nicht
von Edeet Ravel

Zum Inhalt:

Während eines Sommeraufenthaltes in Griechenland wird die Amerikanerin Chloe gekidnappt. Tag für Tag steht das einst selbstbewusste, lebensfrohe Mädchen nun Todesängste aus. Ihre Hilflosigkeit, die körperlichen Qualen durch einen der Entführer und die Einsamkeit treiben sie an den Rand des Wahnsinns. Zu Hause kämpft man für ihre Freilassung, doch hier gibt es nur einen, auf den sie sich verlassen kann. Nur einen, der ihr Überleben sichert. Einen, den sie wirklich liebt … ihr Peiniger. (Klappentext © cbt)

Meine Meinung:

“Auf dem Laptop, den ich bekommen habe, werde ich einen ganz anderen Bericht schreiben, der eigens für ihre Augen bestimmt ist. Dieser Bericht wird sachlich, knapp und akkurat sein. Aber nicht vollständig.
Doch hier, auf dieses blassblaue Papier mit der Goldprägung, schreibe ich die wahre Geschichte. Die Geschichte, die sie nie lesen werden.” (Seite 11)

Edeet Ravel gibt Chloes Geschichte in Form eines Tagebuchs wieder. Anhand des Klappentextes war das so nicht zu erwarten, mir hat das aber sehr gut gefallen. Am Ende der einzelnen Kapitel findet man immer mal wieder Zeitungsberichte und ähnliches. Diese Dokumente zeigen, was während Chloes Geiselhaft in ihrer Heimat passiert ist, wie ihre Familie und Freunde diese Zeit erlebt haben.

Ich musste mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen, dass es in diesem Buch um das Stockholm-Syndrom geht. (Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert. Quelle: Wikipedia) Wenn ich ab und zu kurz davor war diese Tatsache zu vergessen, war das Gelesene für mich ziemlich merkwürdig. Aber dann blinkte dieses Licht vor meinem inneren Auge auf und ich wusste wieder, worum es hier wirklich geht. Und vor diesem Hintergrund wirkt das Gelesene auch nicht mehr merkwürdig, sondern ergreifend und mitreißend.

“Es war schwer zu fassen. Bis vor wenigen Stunden waren wir einander völlig fremd gewesen, aber nun waren unsere beiden Leben untrennbar miteinander verknüpft. Mein Leben lag in seinen Händen. So eng war ich noch nie mit einem anderen Menschen verbunden gewesen, außer vielleicht mit Mom, als ich noch ein Baby war.” (Seite 41/42)

Ob und inwieweit man als Leser verstehen kann wie sich Chloe verhält, warum sie in manchen Situationen genau das tut, was sie tut, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich finde, dass es der Autorin ziemlich gut gelungen ist, dem Leser Raum für eigene Gedankengänge und Überlegungen zu geben – obwohl das Buch aus Chloes Sicht geschrieben ist.

Ständig fragte ich mich, inwieweit Chloes Bericht nun tatsächlich glaubwürdig ist. Hat sie sich da nicht doch was zusammengesponnen? War in Wahrheit alles ganz anders? Letztendlich muss ich aber gestehen, dass ich mich Chloes Sichtweise auf ihren Entführer nicht vollkommen verschließen konnte. Sie hat ihn fürsorglich, fast liebevoll, beschrieben. Fast könnte ich mich zu der Aussage „der netteste Entführer der Welt“ hinreißen lassen. Aber nur fast, denn angemessen wäre das nicht.

“Ich klappte meinen Taschenspiegel auf. Plötzlich hatte ich das überwältigende Bedürfnis, mein Gesicht zu sehen, und war unglaublich froh, dass ich diesen kleinen Gegenstand bei mir hatte. Indem sie mir die Freiheit nahmen, hatten meine Geiselnehmer versucht, mir auch meine Identität zu nehmen, mich zu einem Objekt zu degradieren. Mein Spiegelbild half mir, dagegen anzukämpfen. Ich war keine Ware, die man verkaufen konnte, ich war ein Mensch.” (Seite 59)

Die empfohlene Altersangabe ab 13 Jahre finde ich persönlich ein wenig zu niedrig angesetzt. Selbst ich hatte mit der Geschichte zu kämpfen, obwohl ich schon mehr als doppelt so alt bin… Ein erklärendes Gespräch zwischen Eltern und Kindern im Anschluss an das Buch halte ich für dringend notwendig.

“Du liebst mich nicht” hat mich während des Lesens in einen Strudel der verschiedensten Gedanken und Gefühle gezogen. Und auch jetzt, nachdem ich das Buch beendet habe, lässt es mich nicht los. Die 320 Seiten des Buches ließen sich nicht einfach so weglesen. Immer wieder musste ich innehalten, über das Gelesene nachdenken und es verdauen.

“Was mich wirklich überraschte, war, wie normal er aussah. Er wäre einem auf der Straße oder im Bus nicht weiter aufgefallen. Er sah weder wie ein Irrer noch grausam aus. Ich musste sogar zugeben, dass er gut aussah. Nicht, dass er mir abgrundtief hässlich lieber gewesen wäre, aber ihn attraktiv zu finden, kam mir irgendwie unnatürlich und falsch vor.” (Seite 71)