Rezension

Familie auf dem Prüfstand...

Dschinns -

Dschinns
von Fatma Aydemir

Bewertet mit 4 Sternen

Viele Themen, viele Dramen, ein heftiges Ende. Gefühlt ein wenig zu viel. Aber insgesamt ein toller Roman!

Hüseyin, Ümit, Sevda, Peri, Hakan, Emine – eine türkischstämmige Familie. Der Roman spielt Ende der 1990er Jahre und wird in sechs Abschnitten aus der Sicht der einzelnen Familienmitglieder erzählt, wobei zuerst der Vater zu Wort kommt, der dann aber rasch einem Herzinfarkt erliegt und seinen Traum von der Eigentumswohnung in Istanbul nicht mehr erleben kann, und zuletzt die Mutter. Dabei nähert sich die Autorin behutsam und eindringlich den einzelnen Charakteren an und kennzeichnet sie durch eine jeweils eigene Art sich auszudrücken.

 

„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?“ (S. 189)

 

Fatma Aydemir stellt hier das Konzept Familie auf den Prüfstand. Was verbindet sechs Menschen, die, wie der Klappentext so schön anmerkt, zufällig miteinander verwandt sind? Wenn wie hier jede:r die eigenen Probleme mit sich selbst ausmacht, lebenslange Geheimnisse das Zusammenleben überschatten und Schweigen die einzig verlässliche Gemeinsamkeit zu sein scheint, dann klingt das schon bedrückend. Tatsächlich hat hier jede:r sein Päckchen zu tragen, und die Autorin lässt dabei kaum einen Aspekt zum Thema Identität aus. Die z.T. doch etwas klischeehafte Ausgestaltung einzelner Figuren sorgt zudem dafür, dass auch gesellschaftliche Missstände deutlich werden.

Die Frage nach der Bedeutung von Heimat, Entwurzelung, Armut, Homosexualität, Sprache, Integration, Zwangsheirat, Verfolgung, der kulturelle Spagat (Kurdisch – Türkisch - Deutsch), die Tradition vs. die Moderne, die Rollenerwartungen und die Schwierigkeit, daraus auszubrechen, vorgezeichnete Wege vs. Lebensträume, das Gefühl, nirgendwo gewollt zu sein und sich trotzdem einen Platz im Leben zu erkämpfen - eine Vielzahl an Themen und Problemen, die sich hier gebündelt darstellen, glücklicherweise ohne die (Selbst-)Mitleidskiste zu öffnen. Nicht alles davon ist allein typisch für Familien mit Migrationshintergrund, es gibt hier durchaus auch allgemeingültige Themen, die alle Menschen/Familien/Gesellschaften betreffen und zum Nachdenken anregen.

Interessant fand ich hier den Buchtitel, der sich auf mehreren Bedeutungsebenen auch im Roman wiederfand. Ein Dschinn kann zum einen so etwas sein wie ein Engel oder ein Teufel, und solch eine Gestalt führt im ersten und letzten Kapitel das Wort. Eine ungewohnte Perspektive, aber für mein Empfinden durchaus passend. Zum anderen bezeichnet der Begriff aber auch moralische Dilemmata, z.B. hinsichtlich sozialer Normen. Diese Bedeutung betrifft wiederum jedes einzelne Familienmitglied, denn gerade der Versuch, eine Identität mit oder entgegen der sozialen Normen zu entwickeln, spielt hier eine große Rolle. Und neben den sehr individuellen Dschinns hat die Familie auch einen gemeinsamen: das Schweigen. Eine Eigenschaft, die so vieles nach sich zieht, dass das Konstrukt Familie letztlich auseinanderbrechen muss.

Das letzte Kapitel sorgte bei mir leider für einen Punktabzug. Auch durch die vorherigen Kapitel wurden schon viele Themen und zahlreiche Dramen präsentiert, viele Dinge angerissen, über die es sich nachzudenken lohnt. Aber im letzten Kapitel wurde es mir dann doch zu viel. Näheres kann ich hier nicht erläutern, da es ansonsten zu viel verraten würde. Aber für mich wirkte das Ende wie zwanghaft in eine Form gepresst, dramatisch konstruiert und nicht wirklich glaubwürdig. Das war eine Handlungsschleife zu viel.

Doch insgesamt ist dies ein beeindruckender Roman mit einem gelungenen Aufbau, einem faszinierenden Schreibstil und einerseits klischeebehafteten, andererseits aber auch glaubwürdig ausgearbeiteten Charakteren. Und mit einem ganzen Strauß an Themen, die über das Lesen hinaus beschäftigen.

 

© Parden