Rezension

Frauenmorde in Mexiko

Die toten Frauen von Juárez - Sam Hawken

Die toten Frauen von Juárez
von Sam Hawken

Ciudad Juárez liegt an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze. Hier sind die sogenannten Maquiladoras angesiedelt, in denen Einzelteile für den Export zu Fertigware zusammengesetzt werden. Um in einem solchen Montagebetrieb für einen Billiglohn „von einem Dollar pro Stunde“ zu arbeiten, ist Kelly Courter nicht nach Mexiko gekommen. Er war ein erfolgreicher Boxer im Mittelschwergewicht. Sein Abstieg begann mit gelegentlichen Trinkgelagen, später nahm er Heroin und manipulierte die Tests vor den Kämpfen, danach folgte das unvermeidliche Aus. Im Alkoholnebel verursacht Kelly einen folgenschweren Unfall und setzt sich nach Ciudad Juárez ab. Für ihn, wie auch für die vielen anderen Gesetzlosen, ist Mexiko die einzige Möglichkeit, der Strafverfolgung in den USA aus dem Weg zu gehen. Jetzt, mit 30 Jahren, verdient er sich in „Boxer-Absteigen“ das Geld für die Miete, läßt sich blutig schlagen, große Boxkämpfe sind für ihn in weite Ferne gerückt. Mehr Geld, richtig viel Geld könnte er verdienen, wenn er ohne Handschuhe für seinen Manager Ortíz kämpfen würde, doch auf so etwas läßt Kelly sich nicht ein. Sein einziger Halt vor dem endgültigen Untergang ist seine Freundin Paloma Salazar, die Schwester des Drogendealers Estéban, für den er manchmal Gelegenheitsjobs erledigt. Da er urplötzlich wieder zu härteren Drogen greift und tagelang im Drogennebel gefangen ist, bemerkt er nicht, daß seine Freundin Paloma verschwunden ist. Ihre übel zugerichtete Leiche wird Tage später gefunden und sowohl Kelly als auch Esteban werden verhaftet. Beide werden von Captain Garcia schwer mißhandelt und zu einem Geständnis gezwungen. „Oscar Garcia glaubt nichts, was man ihm sagt, wenn er nicht einen Knochen brechen kann, damit er es zu hören bekommt.“( S. 171) 

Der Autor beschäftigt sich jedoch nur am Rande mit den toten Frauen von Ciudad Juárez. Sein Roman hat zwei Protagonisten, denen er je zur Hälfte das Buch widmet. Zum einen Kelly Courter, ihm gehören die ersten 150 Seiten und zum anderen dem Polizisten Rafael Sevilla, der im zweiten Teil im Vordergrund steht. Dieser hat auf Kelly ein Auge geworfen, anfänglich aus Eigennutz, weil er von ihm Informationen zum Drogenhandel erhofft, später, weil er nicht glaubt, daß er zu einem solch brutalen Mord an seiner Geliebten Paloma überhaupt in der Lage wäre. Er hält schützend die Hände über Kelly und verhindert, daß dieser gleich bei seiner Verhaftung von der mexikanischen Polizei brutal ermordet wird. „Ich kenne Kelly. Ich habe ihn lange beobachtet, mich mit ihm beschäftigt. Die Leute, die ihm das angehängt haben, für die war er ein Ausländer, ein Fremder.“ (S. 176) Auch Enrique Palencia, ein Assistent von Garcia, glaubt nicht an die Schuld von Kelly und unterstützt Sevilla bei seinen nicht ganz legalen Ermittlungen, denn dieser hat ein ganz persönliches Interesse, die Schuldigen ausfindig zu machen. 

Der texanische Autor Sam Hawken hat mit „Die toten Frauen von Juárez“ ein mich doch nachdenklich stimmendes Buch geschrieben, das streckenweise sehr brutal ist. Interessant, mitreißend und atmosphärisch dicht wird es ab der zweiten Hälfte, wenn es um Rafael Sevilla und das Schicksal seiner Familie geht, denn es gibt wenige, die keine Opfer zu beklagen haben. Ein interessanter Kriminalroman mit einem ehrenwerten Ziel. „Seit einigen Jahren werden die feminicidios überschattet von einem unglaublichen brutalen Krieg zwischen Drogenkartellen, der in der gesamten Provinz Chihuahua wütet, besonders aber in der Stadt Juárez.“ (S. 315). Der Autor hat die Hoffnung, mit diesem Roman die feminicidios (Frauenmorde) wieder ein wenig in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Wünschenswert ist das auf jeden Fall.