Rezension

Freigeist

Eine Familie in Berlin - Paulas Liebe -

Eine Familie in Berlin - Paulas Liebe
von Ulrike Renk

„Ich möchte noch so viel lesen, sehen, hören – ja, ich möchte noch etwas erleben. Aber ist mir das als Frau überhaupt möglich?“

„Eine Familie in Berlin – Paulas Liebe“ ist ein historischer Roman von Ulrike Renk und der erste Band der Berlin-Familiensaga. Er erschien im August 2021 und ist in sich abgeschlossen.

Als Paula mit 16 Jahren schweren Herzens zu ihrer Tante Auguste zieht, ahnt sie nicht, welche Umstellung dieser Umzug für sie sein wird. Doch aus dem jungen Mädchen wird eine junge Frau mit eigenen Ansichten, einem klugen Kopf und einem großen Intellekt. Dennoch fragt sie sich häufig, was aus ihrem Leben werden soll, denn studieren darf sie als Frau in Deutschland noch nicht und für die Rolle als Hausfrau scheint sie nicht gemacht. Als sie dann aber Richard Dehmel kennenlernt, einen Künstler und Freigeist, entstehen plötzlich Gefühle, die Paula bisher nicht kannte…

Paula ist eine faszinierende Frau. Sie ist klug, intelligent und gebildet. Sie bekommt durch ihre Tante die Chance, sich selbst zu finden und zu entwickeln – sich zu einer Frau zu entwickeln, die in sich ruht und weiß, was sie will. Gleichzeitig ist sie aber unglaublich empathisch, liebevoll und großmütig zudem häufig unsicher in ihrem eigenen Lebensziel. Manchmal ist sie sogar zu großmütig: Sie erträgt Dinge, die kaum jemand sonst ertragen würde und geht erst spät den Schritt, der sie freimacht. Trotzdem bewundere ich sie. Ich bewundere sie als Figur, bin erstaunt über ihre Entwicklung und fasziniert von ihrer vielschichtigen und detaillierten Darstellung. Sie ist authentisch und realistisch beschrieben und auch die anderen Figuren sind unglaublich gut charakterisiert und in mit vielen Feinheiten gekennzeichnet. Ulrike Renk ist eine Autorin, die bildgewaltig schreibt und den Leser auf eine besondere Art fesselt. Der Schreibstil der Autorin ist einmalig und wortgewaltig. Mich hat sie mitgerissen und irgendwie begeistert, auch wenn der Roman gerade am Anfang einige Längen hatte. Die Geschichte wird in personaler Erzählperspektive aus Paulas Sicht erzählt und immer wieder durch Briefe und Gedichte ergänzt. Die Sprache ist an vielen Stellen und gerade in den Briefen sehr blumig, nahezu schmalzig; die Gedichte häufig etwas rätselhaft. Diese Absätze sind mir sehr schwergefallen und haben meinen Lesefluss teilweise unterbrochen. Auch der Berliner Dialekt lässt sich für mich nicht leicht lesen.
Der Roman beschreibt Paulas Leben von 1879 – 1899, der Leser lernt die junge Frau sehr gut kennen und verfolgt gebannt ihre persönliche Entwicklung. Auf Grund des Klappentextes hätte ich einen deutlich anderen Handlungsverlauf erwartet und mich irgendwie auf etwas anderes eingestellt. Natürlich spielt die Liebe von Paula zu Richard eine zentrale Rolle, die Hauptgeschichte ist es aber meines Erachtens absolut nicht. Hier hätte ich mir eine andere Beschreibung gewünscht, die Erwartungshaltung an das Buch wäre dann eine andere gewesen!
Paulas Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit und wird durch fiktive Aspekte ergänzt. Ich bin überrascht, wie frei die Künstler schon vor dem 20. Jahrhundert waren und wie sie sich bereits in der 1890er Jahren umeinander versammelt haben. Dies kannte ich bisher nur aus Frankreich vor dem zweiten Weltkrieg. 
Insgesamt hat mich Paulas Geschichte sehr an Frauen wie Simone de Beauvoir, Dora Maar oder Camille Claudel erinnert. Verliebt in einen Künstler, nahezu verzagt an seinen Ansichten. Selbst eine Künstlerin, die ihr Talent erst spät so richtig entdeckt…
Für einen historischen Roman werden relativ wenig historische Fakten aufgegriffen, dennoch bekommt der Leser einen guten Einblick in die Rolle der Frau zu dieser Zeit: „Frauen haben im häuslichen Bereich zu bleiben, denn das war ihre Berufung.“ Diese Ansicht wird an vielen Stellen deutlich und zeigt sich auch in Paulas Leben an vielen Stellen.
Für mich war es der erste Roman von Ulrike Renk und ich bin insgesamt einfach unglaublich fasziniert vom Schreibstil und der bildgewaltigen Erzählung. Obwohl ich einige Kritikpunkte habe, habe ich Paulas Geschichte gerne gelesen und bin unglaublich fasziniert von ihr als Person und von der Darstellung dieser durch die Autorin! Ich freue mich auf den zweiten Band der Reihe und werde definitiv weitere Romane von Ulrike Renk lesen!

Mein Fazit: „Eine Familie in Berlin – Paulas Liebe“ ist ein historischer Roman, der das Leben von Paula Oppenheimer schildert und auf eine besondere Art und Weise fasziniert. Trotz einiger Längen ist die Geschichte interessant und die Protagonistin so vielschichtig, dass man kaum genug von ihr bekommt. Ich habe mich an einigen Stellen mit Dialekten und Gedichten schwergetan, habe aber auch viel Lesefreude gehabt. Ich empfehle den Roman denjenigen, die gerne Romane über starke Frauen lesen und sich gerne mit der Rolle der Frau im Laufe der Zeit beschäftigen und dabei auch einen teilweise abschweifenden Erzählstil akzeptieren können. Ich vergebe insgesamt 4 von 5 Sternen.