Rezension

In Würde, Selbstbestimmtheit und Freiheit - leben und auch sterben können....

Ein Leben mehr - Jocelyne Saucier

Ein Leben mehr
von Jocelyne Saucier

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt/Handlung:
" Drei alte Männer leben in den Tiefen der nordkanadischen Wälder, sie verbringen ihre Tage in gemächlicher Einsiedelei, sie angeln, jagen, plaudern, träumen vor sich hin. Bis eines Tages eine Fotografin und eine geheimnisvolle alte Dame von 82 Jahren dazustoßen - und zwischen ihnen allen etwas entsteht, das niemand für möglich gehalten hätte. "Ein Leben mehr" ist ein beseelter und berührender Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe, die Freiheit und die Natur. Ein Roman wie das Leben selbst: Traurig und schön." (Quelle: Buchrückentext)

Meine Meinung/Rezension:
Ich kann mich den beiden letzten Sätzen im Buchrückentext aus tiefstem Herzen nur anschließen: Bereits das Cover mit dem Antlitz des alten Mannes strahlt Ruhe, Würde, Gelassenheit, Demut (vor dem Leben), Wissen (um den Tod) u.v.m. aus - und berühren zutiefst, denn vor Botschaften des "Älterwerdens" kann sich niemand verschließen - es gehört zum Leben...
Bücher einer solchen erzählerischen Kraft, deren Sprachstil dennoch äußerst sensibel in der Lage ist, diese berührende Geschichte "ans Licht zu bringen", gibt es sehr selten! Wir begegnen drei alten Männern, die aus unterschiedlichen Gründen beschlossen haben, inmitten der Abgeschiedenheit der kanadischen Wälder ihre letzte Zeit zu verbringen: Da ist Charlie, ein nach außenhin rauer, aber sehr sensibler alter Mann, da ist Ted "Boychuck", einer der letzten Überlebenden der Großen Brände (1916) , der sehr menschenscheu ist und in langen Wintern den anderen der Gemeinschaft eine große Zahl von Bildern darüber "vererbt" und da ist Tom, der in jungen Jahren bindungsscheu, aber dennoch ein Draufgänger und ein Schürzenjäger in seinem bewegten Leben war. Die drei "wilden Alten", jeder auf seiner Lichtung wohnend, erfahren Hilfsbereitschaft, Versorgung  und Unterstützung durch Steve, der ein Hotel in der Nähe betreibt und somit eine Art "Grenzposten" darstellt sowie Bruno, der mit Steve u.a. gemeinsam hat, "verbotene Dinge" zu mögen. Auf der Suche nach dem legendären "Boychuck", um den sich zahlreiche Sagen und Legenden ranken, führt die Spur der "Fotografin", eine weitere Hauptperson in der Geschichte, sie in den Wald, um mehr über Ted Boychuck zu erfahren...Eines Tages bringt Bruno eine alte Dame mit, Marie-Desneiges, die sogleich in die bis dahin eingeschworene Männergemeinschaft aufgenommen wird: Sie hat ihr Leben in psychiatrischen Anstalten zubringen müssen und fängt mit 82 Jahren an, überhaupt zu leben: Charlie, der Sensibelste unter allen Männern, vergleicht sie mit einem Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist - und nimmt sie kurzerhand unter seine Fittiche bzw. bietet ihr sein Pelznest an, da Marie-Desneiges, hospitalisiert und von Angst- und Panikattacken befallen, nicht alleine sein kann... So verirrt sich auf leisen Sohlen die Liebe in den Wald und Charlie hilft Marie-Desneiges durch seine große Empathie und Sensibilität mehr und mehr, ihre Ängste zu bewältigen. Die Geschichte ist insgesamt geprägt durch ein großes Selbstverständnis und eine Ehrlichkeit und Mitmenschlichkeit zwischen den alten Männern, die ihresgleichen sucht: Die "Fotografin", die sich ihrerseits sehr zu den Alten hingezogen fühlt und zu  Marie-Desneiges eine Freundschaft aufbauen kann, versteht es ebenfalls durch Empathie und sehr viel Beobachtungsgabe und Spürsinn, den Lebensweg Boychucks anhand seiner Bilder und mit Hilfe von Marie-Desneiges doch noch nachzeichnen zu können: Dies ist die Leitschnur, die sich durch diesen wunderbaren Roman zieht, in der die Großen Brände von 1916 eine Rolle spielen.... Eines Tages wird der bis dahin recht trauten und glücklichen Einsiedelei ein jähes Ende gesetzt: Im  Hotel von Steve wird eine Razzia durchgeführt und das zwischen Steve, Bruno und den 3 Alten geschlossene "Bündnis" ist damit zu Ende.... 
Für mich gibt es - neben der großen Sympathie für Charlie, Tom und Ted sowie für die "Zeugen der Geschichte" - Steve, Bruno, Marie-Desneiges und besonders für die Fotografin - sehr viel Menschlichkeit auf jeder Seite zu lesen; Zitate und Sätze zu entdecken, die es mehr als Wert sind, im Gedächtnis behalten zu werden. Die Themen des Romans sind für mich vielseitig: Alter und Tod, Würde und Selbstbestimmtheit ("sie mochten keine Leute vom Amt und keine Sozialarbeiterinnen"), damit eine Absage an jede gesellschaftliche Form der Fremdbestimmung (Altersheime, Psychiatrie etc.); auch Solidarität und eine ausgeprägte Form der Ehrlichkeit, in der Ted, Charlie und Tom miteinander umgingen: Auf dieser basiert das gelingende und freie Leben im Wald...Der Autorin gelingt es auf sanfte und warmherzige, dennoch vor Sprachkraft strotzender Weise, eine wunderbare Geschichte des "Menschseins im Alter" zu erzählen, die an Kraft und Würde, die die drei alten Männer in ihrer Einsiedelei besitzen, kaum zu übertreffen ist - das Thema, das jedoch über allen steht, ist die Freiheit:
"Man ist frei, wenn man sich aussuchen kann, wie man lebt und wie man stirbt." (Zitat)Dieses Buch wühlt auf, regt an, bringt den Leser zum Nachdenken - und macht vor allen Dingen viel Spaß, es zu lesen! Besonders positiv fand ich die (kursiv gedruckten) Einschübe, die erklärenden Charakter haben und die wie eine Leitlinie, ein Tauwerk durch die Geschichte sind und zu einem noch besseren Verständnis des Romans beitragen. 

Fazit:
Eine sehr berührende Geschichte, atmosphärisch dicht und sensibel erzählt, dennoch voller Erzählkraft, stilistisch so klar wie das Wasser eines kanadischen Waldsees , an dem die kleine Gemeinschaft lebt: Eine sprachgewaltige und dabei überaus sensible Erzählform, die die Seele berührt und für mich ein Lesehighlight 2015 bedeutet! Die volle Punktzahl und 5 Sterne daher - mit einer absoluten Leseempfehlung meinerseits.Ich danke dem Suhrkamp/Insel-Verlag für dieses wunderbare Buch und der Übersetzerin Sonja Finck für die geniale Übersetzung und hoffe, von der Autorin noch mehr lesen zu können.v