Rezension

Katrina und die Chronistin

Vor dem Sturm - Jesmyn Ward

Vor dem Sturm
von Jesmyn Ward

~~Wer erinnert sich nicht mehr an Katrina, diesen Jahrhundert-Hurrikan, der gerade im Mississippi-Delta verheerende Schäden anrichtete und fast zweitausend Menschen das Leben kostete. Jesmyn Ward hat diese Naturkatastrophe er- und überlebt und in ihrem zweiten Roman "Vor dem Sturm", für den sie mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, zu verarbeiten versucht.

Der zeitliche Rahmen erstreckt sich über knapp zwei Wochen, wobei der Schwerpunkt auf den Tagen vor Katrina liegt. Die Geschichte wird aus Sicht der fünfzehnjährigen Esch erzählt, die mit ihrem Vater und ihren drei Brüdern in einer heruntergekommenen Hütte am Waldesrand lebt. Die Mutter ist gestorben, der Vater ein Säufer, und die Kinder sind für sich selbst verantwortlich und müssen schauen, wie und dass sie einigermaßen durchs Leben kommen. So auch in den Tagen vor Katrina, in denen sie sich auf den Sturm vorbereiten...

Jesmyn Ward zeigt uns einen Ausschnitt aus dem täglichen Leben schwarzen Familie in den Südstaaten, bei deren Mitglieder der amerikanische Traum nie zur Diskussion steht und wahrscheinlich auch nie Wirklichkeit werden wird, da der Kampf ums Überleben alle anderen Bestrebungen überlagert. Es gibt keinen Erwachsenen, der sich um die Kinder kümmert und so wachsen diese ohne Perspektive auf, wobei sie dieses Leben aber auch nicht infrage stellen. Teenagerschwangerschaft? Ja, ist eben passiert. Machtkämpfe innerhalb der Gang? Klar, gehört dazu.

Aber der drohende Sturm verändert die Sicht auf die Dinge. Staatliche Hilfe ist nicht zu erwarten, denn die Nationalgarde kümmert sich zuerst um die Wohngebiete der Weißen, also ist Esch gefordert und sie ist diejenige, die Verantwortung übernimmt und dafür sorgt, dass alle Vorbereitungen getroffen werden, damit das Überleben ihrer ihre Familie gesichert ist. Langsam, aber nicht minder bedrohlich treibt die Geschichte auf den Höhepunkt zu, und wenn der Hurrikan vorbei ist, wird nichts mehr so sein wird, wie es vorher war.

Die Autorin erzählt nüchtern und emotionslos, aber gerade deshalb umso beeindruckender. Sie drückt nicht auf die Tränendrüse oder äußert offen Kritik an den politischen Zuständen im Süden der Vereinigten Staaten. Aber sie erreicht ihre Leser dennoch auf der emotionalen Ebene, denn nach der Lektüre muss man das Gelesene zuerst einmal sacken lassen.

Ein beeindruckendes Buch über das andere Amerika, über Schwarz und Weiß, über familiären Zusammenhalt, über Liebe und Verantwortung - Jesmyn Ward ist eine würdige Chronistin der Ereignisse des Spätsommers 2005!