Rezension

Mitreißender Familienroman vor der Kulisse von fünfzig Jahren deutscher Geschichte

Geteilte Träume -

Geteilte Träume
von Ulla Mothes

Bewertet mit 4 Sternen

Wink des Schicksals oder reiner Zufall? Die Abiturientin Ingke wird Hals über Kopf damit konfrontiert, dass sie nicht das leibliche Kind ihrer Eltern ist, sondern als Baby adoptiert wurde. Daraufhin steht ihre Welt Kopf. Alles, woran sie geglaubt hatte, stimmt plötzlich nicht mehr. Sie entschließt sich, ihre leibliche Mutter ausfindig zu machen und ihre wahre Geschichte und die ihrer Familie zu ergründen.

Ulla Mothes‘ Roman „Geteilte Träume“ ist am 26.02.2021 bei Lübbe erschienen. Der Untertitel „Eine deutsche Familiengeschichte“ greift dabei fast ein wenig zu kurz, denn der Roman ist beinah schon ein Epos, das einen Zeitraum von etwa fünfzig Jahren umspannt. Da ist es gut und hilfreich, auf den letzten beiden Buchseiten mithilfe eines Stammbaums die Übersicht über die handelnden Personen bewahren zu können.

Mit bildreicher Sprache versetzt Ulla Mothes ihre Leserschaft mühelos in die einzelnen Zeitepochen zurück – anschaulich lässt sie die Nachkriegsjahre in der DDR ebenso lebendig werden wie den Mauerbau 1961 und schließlich die Wende. Und die Autorin ist eine, die mitreden kann – besonders, was das Leben in der DDR in den Achtzigern angeht. Sie selbst stellte einen Ausreiseantrag und verließ den Arbeiter- und Bauernstaat im Jahr 1986. Nur wenige Jahre danach, nämlich 1992, tauchen wir in „Geteilte Träume“ in die Romanhandlung ein. Abgewickelte Betriebe, menschenleere Dörfer, düstere Zukunftsprognosen: keine guten Ausgangsbedingungen für einen jungen Menschen. Und schon gar nicht, wenn man noch dazu von heute auf morgen erfährt, dass die eigene Familiengeschichte auf Lug und Trug basiert. So geht es Ingke, der Hauptperson. Während der ganzen 447 Buchseiten, über die sich dieser Roman erstreckt, wurde ich mit Ingke nicht richtig warm. Hauptsächlich würde ich sie mit den Eigenschaften kühl, fordernd und distanziert beschreiben. Sicher, dass sie trotzig reagiert, fast schon Hass empfindet, ist bei der Tragweite einer solchen Offenbarung wie der eigenen Adoption nachvollziehbar, aber aus Ingke wird für mich persönlich einfach kein sympathischer Charakter. Doch vielleicht war genau das die Intention der Autorin – um zu verhindern, dass aus einem ernsthaften Familienroman eine rührselige, mitleidheischende Story wird.

Ich muss Ulla Mothes Respekt zollen – zum einen, weil sie eine runde, in sich stimmige Erzählung mit Tiefgang geschaffen hat, für die es angesichts der vielen handelnden Personen und der unzähligen kleinen wie großen Erinnerungen sicherlich eine ganze Menge Disziplin beim Plotten braucht. Andererseits, weil man der Geschichte die unbändige Leidenschaft anmerkt, mit der die Autorin sie erzählt. Und es gibt wirklich keine einzige Stelle, an der sich die Geschichte zieht oder man anderweitige Ermüdungserscheinungen spürt.

Ulla Mothes hat mit „Geteilte Träume“ ein mitreißendes Stück deutscher Geschichte Revue passieren lassen, das hervorragend unterhält und lange nachhallt.