Rezension

Vatersuche. Spurensuche. Überlegungen.

Mein Vater, der Deserteur - René Freund

Mein Vater, der Deserteur
von René Freund

Bewertet mit 4.5 Sternen

Momentan sind viele Bücher, die im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg stehen, auf dem Markt und das Thema des Zweiten Weltkriegs verschwindet auch nie ganz aus der Literatur. Ich frage mich manchmal, warum. Ist Krieg faszinierend? Darf man niemals Vergangenheit Vergangenheit sein lassen? Warum hört es niemals auf, irgendwo Krieg zu sein? Müssen Menschen einander umbringen aus den verschiedensten Gründen? Ist dies ein Naturgesetz?

Der Zweite Weltkrieg ist historisch gesehen nur einen temporären Mückenschiss von uns entfernt. Es leben noch Zeitzeugen, die ihn mitgemacht haben. Und diese Zeitzeugen sind eben nicht irgendwelche Leute, sondern unsere Großeltern oder Eltern - der Zweite Weltkrieg bleibt uns Europäern auch wegen der Tragödie des Holocaust im Bewusstsein. Und die Nachkriegsgeneration wird von den Traumata zurückkehrender Soldaten geprägt und von traumatisierten Müttern erzogen.

Gerhard Freund, der Vater des Autors René Freund, ist einer dieser Männer gewesen, einer von denen, die in zarten Jünglingsjahren und in den letzten Kriegswochen doch noch mit dem Kriegsgeschehen und der damit verbundenen Politik konfrontiert wurden. „An die Waffen“, hieß es und er wurde an die Front verschickt. Westfront. Glück im Unglück. In Paris konnte man leichter ... fliehen. Aber das hieß noch lange nicht, dass man gemütlich in den Zug steigen und nach Hause fahren konnte, man hatte alle Hände voll zu tun, sich zu verstecken, zu überleben, und das Überleben hing nicht vom eigenen Geschick, Wollen und Willen ab, sondern von vielen nicht zu beeinflussenden Gegebenheiten.

René Freunds Vater kam zurück. Sehr gern habe ich erfahren, was das für ein Mann war, was für ein Vater, was für ein Ehemann, Kollege, wes Geistes Kind er war. Manches davon hat René angerissen, allzu viel konnte er jedoch nicht berichten, trotz ausführlicher, gründlicher Familienrecherche; denn als er zwölf Jahre alt war, starb der künstlerisch begabte Vater an einem Gehirnaneurysma.

Als Familienvater mit zwei Kindern, Sohn und Tochter, in Begleitung zweier Hunde und selbstredend von Frau Gemahlin, macht René Freund sich auf die Spurensuche. Von der Reise an die verschiedenen Orte, die sein Vater durchlief, von seinem Kriegstagebuch ausgehend, und von den Gedanken, die sich René macht, während er sich in die Situation seines Vaters und die Situation der Menschen „damals“ versetzt und sie mit vergleichbaren ethischen Problemen der Neuzeit verknüpft, handelt der vorliegende schmale Band „Mein Vater, der Deserteur.“ Dabei merkt René, dass Sohn und Tochter ganz unterschiedlich auf die Reiseeindrücke reagieren und stellt die Frage, ob Krieg „maskulin“ ist.

Der Autor hat das persönliche Interesse sehr gut mit dem allgemeinen verknüpft, liefert zum D-Day in der Normandie, zu den Soldatenfriedhöfen und zu der Situation in Paris in den letzten Kriegstagen mancherlei Informationen, die nicht so bekannt sind; am packendsten finde ich jedoch die zum Teil schwer zu beantwortenden Fragen, die er sich und dem Leser stellt: Stellt euch vor, es ist Krieg und niemand geht hin, geht das überhaupt? Was, wenn man für das Nichtmitmachen ermordet wird? Gibt es Situationen, in denen man stur dem (Tötungs-)Befehl des Vorgesetzen folgen darf? Oder muss? Wo ist die Verantwortung des einzelnen anzusiedeln und wo hört sie auf? Sind Deserteure Helden oder Feiglinge? Oder eine Mischung von beidem?

Die Karrierestationen des heimgekehrten Gerhard Freund sind für Angehörige natürlich bedeutender als für Fernstehende, können den Leser nicht mehr so in den Bann ziehen, selbst wenn Gerhard Freund als österreichischer Fernsehintendant durchaus eine Person war, die Einfluss nahm.

Fazit: Eine lesenswerte Aufarbeitung einer kriegsgeschädigten Familiengeschichte mit philosophisch angehauchten Reflektionen.

Kategorie: Historischer Roman
Deuticke im Hause Hanser,  2014

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 10. November 2014 um 19:40

Eine sehr gut geschriebene und interessante Rezension, die auch zeigt, dass die Geschichte nicht vorbei ist - es scheint, man sollte dieses Buch lesen!