Verborgene Wunden
Bewertet mit 5 Sternen
Es ist vielleicht eine Stunde, die vergeht, zwischen dem Aufklappen des Buchs und dem letzten Wort auf Seite 229. Eine Stunde, in der die Erzählerin unter dem Lastwagen sitzt, der ihre Familie von einer kleinen Ansammlung an Höfen nahe des spitzesten Zahns der Karawanken nach Klosterberg transportieren soll. Eine Stunde, in der sie von den anderen Bewohnern der Höfe erzählt und durch ihre starke, analytische Beobachtungsgabe alle kleinen und großen Wunden aufdeckt, die die Erwachsenen so mühsam zu verbergen versuchen.
Da ist die Klassenkameradin, mit ihren hohen Strümpfen, um die Brandnarben zu verdecken, der Nachbar, der weg lief und mit den Partisanen kämpfte und nun Katzen im nahen Katzlteich ertränkt, der andere, der dem NS-Reich hinterhertrauert. Da ist die Mutter, die die Affären des Vaters duldet, denn er bringt ja gutes Geld nach Hause. Und da ist die Erzählerin selbst, deren Wunsch ein Junge zu sein über die Seiten des Romans immer deutlicher hervortritt. Über allem aber schwebt der plötzliche Tod des kleinen Franzi, der im Brunnen ertrinkt. Ein Vorfall der genauso gewissenhaft übergangen wird wie alle anderen sonderlichen Ereignisse und als Trauma nur dann hervorbricht, wenn die Erwachsenen zu viel getrunken haben.
All das und noch viel mehr erzählt die Erzählerin während sie unter dem Lastwagen hockt. Ihre Gedanken winden sich durch die Zeit, verhaken sich in den individuellen Lebensgeschichten der Bewohner der Höfe und fördern zu Tage, was sonst ungesagt bleibt.
Ich habe mich wahnsinnig gerne auf Julia Josts trockene, ehrliche und doch zugleich so einfühlsame Erzählweise eingelassen. Ich habe mich einfach fallen gelassen, bin den Gedankengängen ihrer Erzählerin gefolgt und wurde mit einem wahnsinnig tollen Leseerlebnis belohnt. Für mich durch seine Erzählweise und die Einblicke in die archaische, österreichische Bergwelt, ein einzigartiges Buch, das seinen festen Platz in meinem Bücherregal finden wird!