Rezension

Am Ende zählt nur der Moment

Die Erinnerungsfotografen -

Die Erinnerungsfotografen
von Sanaka Hiiragi

Bewertet mit 4 Sternen

berührt durch seine Einfachheit

Wenn du stirbst, dann zieht dein ganzes Leben an dir vorbei. So oder so ähnlich stellen sich viele ihre letzten Augenblicke im Leben vor. Auch, wenn die Idee dahinter nicht neu ist, hat Sanaka Hiiragi in ihrem Roman diesem Thema eine ganz neue Bedeutung gegeben.
Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte ist ein ganz besonderes Fotoatelier. Es scheint auf den ersten Blick ganz gewöhnlich zu wirken, doch ist es ein mystischer Ort. Hier arbeitet Hirasaki und empfängt seine besonderen Kunden. Diese sind zeitnah verstorben und befinden sich nun in einer Art Zwischenwelt. Um weitergehen zu können, müssen sich seine Kunden aus den Fotografien ihres Lebens, ihre eigene Diashow voller Erinnerungen erstellen. Während dieses Prozesses steht Hirasaki stehts mit Rat und Tat zur Seite. Dabei kann es vorkommen, dass gewisse Fotografien abgegriffen wie Erinnerungen sein können. Hirasaki gibt seinen Kunden die Möglichkeit, zu diesem Tag zurück zu reisen und ihren besonderen Moment erneut aufzunehmen.
In 3 kurzen Episoden erhalten wir einen Einblick in Hirasakis Arbeit und deren Bedeutung dahinter. Ich muss gestehen, dass ich nach dem Besuch der alten Dame ein wenig Sorge hatte, dass es nun langweilig werden könnte beziehungsweise die Handlungen sich zu sehr ähneln würden. Meine Sorgen waren aber unbegründet. Natürlich sind Hirasakis Arbeitsabläufe in gewisser Weise stets gleich, doch macht die Individualität seiner Kunden den Unterschied.
Es kam mir so vor, als würde die Zeit hier wirklich still stehen. Auch wenn das Thema Tod kein fröhliches ist, so fühlte es sich nie schwermütig an. Ich empfand die hier geschaffene Atmosphäre eher heimelig, als würde ich selbst auf eine Tasse zu Besuch sein. Dies lag vor allem an Hirasaki selbst. Er besitzt eine unglaublich ruhige empathische Art. Während er seinen Kunden ihre Erinnerungen wiederherstellt, bleibt sein eigener Hintergrund blass wie eine abgegriffene Fotografie. Sein eigenes Schicksal wird am Ende nur dem Leser in kleinen Details offenbart. Dies machte mich doch traurig, da ich mir wünschte Hirasaki einen Teil seiner Erinnerungen wiedergeben zu können.
Die Idee mit den Fotografien war einfach nur bezaubernd. In unserer heutigen schnelllebigen Welt werden Erinnerungen meist nur noch digital festgehalten und schnell wieder vergessen. Diese aber in den Händen zu halten, macht sie aber wieder viel realer.
Man erfährt nur das Allernötigste über Hirakis Arbeit und dass es anscheinend noch mehr Ateliers dieser Art zu geben scheint. Normalerweise würde es mich stören, nicht mehr über das große Ganze dahinter zu erfahren. Doch hier lag  der Fokus auf dem Leben an sich und die Bedeutung des Einzelnen. Daher mochte ich es, dass nicht das gesamte Leben der Verstorbenen beleuchtet wurde und ihr Leben nicht in Schwarz und Weiß unterteilt wurde. Ihr letzter Gedanke sollte eine besondere Bedeutung für sie haben.  Es macht mich glücklich zu wissen, dass es die Möglichkeit gibt, mit seinen bedeutenden und vielleicht längst verblassten Erinnerungen von dieser Welt zu gehen. Und dabei zu bemerken, dass das eigene Leben doch nicht sinnlos  oder vergeudet war. Es reicht meist eine vermeintlich bedeutungslose Tat, die für andere die Welt bedeuten. Ebenso zeigt diese Geschichte, wie unscheinbare Momente uns unbewusst beeinflussen können.
Es ist erstaunlich wie sehr ein Bild etwas in uns auslösen kann. Man fühlt sich in den Augenblick zurück versetzt, als er entstanden ist. Der Moment von einst ist fast körperlich spürbar mit all seinen Empfindungen, Gerüchen und Geräuschen. Selbst nach Beendigung des Buches ließ mich die Geschichte nicht los. Ich stellte mir selbst die Frage, wie ich entscheiden würde, sollte ich eines Tages in Hirasakis Fotoatelier erwachen. Welche Fotos meines Lebens würde ich für meine letzte Reise auswählen? Vor allem wie würde dieses letzte besondere Foto aussehen, deren Moment ich noch ein Mal rückblickend erleben dürfte?
Was die japanische Literatur ausmacht ist die Tatsache, dass sie sich nicht mit vermeintlich überflüssigen Details aufhält. Sie erzählt auf eine nüchterne Art und dennoch unterschwellig poetisch. Es mag zwar oft unspektakulär wirken, doch berührt mich diese ruhige Direktheit umso mehr.  So passierte es, dass mich während des Lesens ein paar Sätze unvorbereitet tief getroffen haben. Für andere mag diese Szene unbedeutend erscheinen, doch mir wird sie noch lange im Gedächtnis bleiben. Am Ende hätte ich mir vielleicht noch mehr Episoden gewünscht, um noch länger in dieser Zwischenwelt zu verweilen.
Ein Buch für alle die das Entschleunigte suchen und sich auf das Wesentliche besinnen wollen