Rezension

Annette - eine moderne Heldin

Annette, ein Heldinnenepos - Anne Weber

Annette, ein Heldinnenepos
von Anne Weber

Von Anne Beaumanoir hatte ich noch nie etwas gehört. Dabei hatte sie ein so bewegtes Leben: 1923 in der Bretagne geboren, geht sie schon als Jugendliche in die kommunistische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Besatzer. Als junge Frau rettet sie zwei jüdischen Jugendlichen das Leben und wird dafür von ihrer Partei gerügt, weil sie spontan auf eigene Initiative und ohne Absprache handelte. Als der Zweite Weltkrieg endlich vorbei ist, studiert sie Medizin und wird Ärztin. Doch ihr Gefühl für Ungerechtigkeit verlässt sie nicht: Sie muss erkennen, dass auch ihre Regierung andere unterdrückt - die Bewohner der Kolonien. Sie engagiert sich in einer Untergrundbewegung für die Unabhängigkeit Algeriens, wird verraten, gefangen und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Flucht nach Afrika gelingt ihr, und dort erlebt sie den Krieg und arbeitet im freien Algerien als Regierungsmitglied am Aufbau des Gesundheitswesens. Nach einem Regierungsputsch muss sie wieder fliehen und arbeitet in der Schweiz als leitende Neurologin einer Universitätsklinik. Nach vielen Jahren wird sie begnadigt und kann zurückkehren nach Frankreich; dort lebt sie als 95-jährige in einem kleinen Dorf.

Die Autorin Anne Weber lernt Anne Beaumanoir, genannt Annette, kennen und ist fasziniert. Mit diesem Buch setzt sie ihr ein literarisches Denkmal. "Annette, ein Heldinnenepos", würdigt diese außergewöhnliche Frau. Aber es ist keine einseitige Huldigung, es werden auch Zweifel deutlich, die in Annette selbst aufgetaucht sind oder aber in ihrer Namensvetterin Anne: War es richtig, den beiden Juden zur Flucht zu verhelfen, wo doch das Risiko des Scheiterns für alle drei so hoch war und damit auch die Widerstandsbewegung gefährdet wurde? War es richtig, in einer Widerstandsbewegung mitzuarbeiten, die selbst Anschläge durchführte und den Tod vieler Menschen verursachte? War es richtig, ein Regime zu unterstützen, das andere unterdrückte? War es richtig, ihre eigenen drei Kinder zu verlassen, um sich für viele andere zu engagieren? War es richtig, ihre Forschungen auf dem Gebiet der Neurologie zurückzustellen? Immer wieder wird das eigene Leben, das eigene Handeln in Frage gestellt. Keine blinde Held(inn)enverehrung also, sondern eine mehrdimensionale und kritische wie selbstkritische Betrachtungsweise.

Die Form des Textes ist ungewöhnlich: Sie ahmt die klassischen Epen nach - Homers Odyssee, Vergils Aeneis: Ein Gedicht. Allerdings in nicht in der klassischen Form, denn es finden sich keine Reime (oder halt nur vereinzelt und wohl zufällig), und es gibt auch keinen festen Rhythmus wie einen Hexameter - zwar sind es meist sechs Betonungen, jedoch längst nicht immer. Im Grunde könnte man den Inhalt auch als Fließtext schreiben, doch die Aufteilung in unterschiedlich lange Zeilen führt zu Zeilenumbrüchen und damit zu Unterbrechungen und Betonungen. Ein ungewöhnliches Stilmittel, das hier aber sehr gut passt. Der faszinierende Inhalt und die Originalität der Form tragen dann auch über einzelne schiefe Ausdrücke hinweg.

Das Buch hat den Deutschen Buchpreis 2020 gewonnen.

Zum Abschluss dieser Rezension als Zitat Beginn und Ende des Buches. So philosophisch ist nicht das ganze Buch, zwischendrin gibt es ganz bodenständige, realistische Schilderungen neben Überlegungen. Fazit: Trotz anfänglicher Skepsis habe ich dieses Buch gern und mit Gewinn gelesen.

 

"Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.

Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf

diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch

Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.

Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.

Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht."

...

Und zum Schluss, in Anlehnung an Camus "Der Mythos des Sisyphos":

"In jedem flüchtigen Moment, so schreibt Camus,

in dem ein Mensch sich umwendet zu seinem Leben,

betrachtet Sisyphos, zurück auf seinem Fels, die

Abfolge der abgerissnen Handlungen, die sein

Gedächtnisblick zusammenhält und die sein

Tod demnächst besiegelt. Der Kampf, das

andauernde Plagen und Bemühen hin zu

großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz

zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten

glücklich vorstellen."