Rezension

Großartig!

Annette, ein Heldinnenepos - Anne Weber

Annette, ein Heldinnenepos
von Anne Weber

Bewertet mit 5 Sternen

Am Ende des Buchs erfahren Leserin und Leser, wie »Annette, ein Heldinnenepos« entstanden ist, und zwar so: Als die Autorin Anne Beaumanoir (genannt Annette) kennenlernte, saßen beide in einem Restaurant, und Annette aß Tintenfisch:

»Der Tintenfisch beginnt nach einer Weile,
wie es sein Wesen will und wie ers anders
gar nicht kann, nicht wenig Tintenschwärze
abzusondern, die er dort hinterlässt, wo er
im Augenblick zuvor noch war. Was von ihm
bleibt, ist eine schwarze Wolke, und in der
schwarzen, eng schraffierten Wolke
lebt weiß und blau Annette. (S. 207)

Es gibt viele Stellen in diesem Buch, in denen die Autorin nicht nur von Annette erzählt, sondern selbst spricht, zum Geschehen und Annettes Handeln Stellung bezieht, immer wieder auch humorvoll. Das Zitat von S. 207 zeigt zudem, dass man sich von der Form des Versepos nicht abschrecken lassen muss: Die Sätze sind ganz »normal« zu lesen, nur mit einem »unnormalen« Zeilenumbruch. Ohne diese Form wäre der Text aber auch inhaltlich ein anderer geworden – das Versepos führt zu einem komprimierteren Schreiben, einer – im Vergleich zu einem Roman – anders akzentuierenden Darstellung, die vielen, Sätze unterteilenden Absätze sind also keine Masche.

Das Buch beginnt  mit Annettes Kindheit und einem Blick auf ihre Eltern und Großeltern. Für ihre Großmutter väterlicherseits, die Notartochter, war die Verbindung mit Annettes Mutter, dem »Mädchen aus dem Fischerhäuschen«, nicht standesgemäß:

»Alles in ihr sträubte sich gegen
die ungleiche Verbindung, der dann
zu ihrem Leidwesen auch prompt
eine Annette entsprang. Sie hält den Sohn
für etwas Besseres und sie hat recht damit,
er ist auch etwas Besseres, denn er verzichtet
auf ihre achtbare Gesellschaft und sein Erbe
zugunsten seiner Liebsten.« (S. 9)

Dass Annette schon »früh einen Sinn für Ungerechtigkeit« entwickelte, hatte mit ihrer ersten Lehrerin zu tun:

»Sie [...] steht jeden Morgen [...]
vor der Klasse, in der zwei kleine Mädchen
namens Germaine ungefähr gleich schlecht sind,
doch zieht die ›maitresse‹ nur eine der beiden
zur Strafe an den Zöpfen. Welche davon
mag wohl die Bürgermeisterstochter gewesen sein?«

Es sind u. a. solche Stellen, mit denen das Buch mich schnell für sich einnahm. Es gibt eine Fülle zitierenswerter Sätze, in denen Anne Weber Stellung bezieht.

Weber erzählt von Annettes Kindheit, ihrem Weg in die Resistance und später ihrem Engagement für die Unabhängigkeit Algeriens, dann, nach erreichter Unabhängigkeit, im Rahmen der algerischen Regierung. Die für eine gerechte Welt, Menschlichkeit und Freiheit kämpfende Anne Beaumanoir gerät dabei regelmäßig in die Situation, den Anweisungen »Oberer« folgen zu müssen. Entgegen den Anweisungen der kommunistischen Resistance entschließt sie sich aber zu einer Spontanaktion, als es darum geht, jüdische Franzosen zu retten, die ohne ihr Eingreifen verhaftet und ermordet worden wären. Eindrucksvoll, wie Anne Weber die Zweifel Annettes schildert, die, noch Jugendliche, diese Aufgabe übernimmt und nicht weiß, ob ihre Aktion gutgehen wird oder ihre Schutzbefohlenen gerade in die Hände der Gestapo bringen wird.

Vor allem in ihrem Engagement für eine neue, freie algerische Gesellschaft sieht Annette nicht, dass es von vorneherein um Macht geht und mit der Unabhängigkeit Gegner der neu Herrschenden ausgeschaltet und ermordet werden – oder will sie es nicht sehen? Mit ihrer Arbeit für eine medizinische Versorgung der Bevölkerung hilft sie Menschen – unterstützt aber auch ein korrumpiertes Regime. Als das Militär die Macht ergreift, sieht dies auch Annette und wird künftig damit zu kämpfen haben, dass sie den Kontakt zu ihrer Familie, ihren Kindern einer in vielem (der Methode der Herrschaft, nicht im Ziel) ungerechten Sache geopfert hat. In diesem Teil werden die Kommentierungen der Autorin besonders ausführlich.

Annette hat sich in ihrem Bemühen ums Gute vielfach verstrickt.

Zu Annettes Leben nach Algerien gibt es nur wenige Bemerkungen.

»Da kommt noch einiges an Weltverbesserungsversuchen, doch ist es
weniger spektakulär (und dabei immer noch
viel mehr, als unsereins in seinem ganzen
Leben hinbekommt.« (S. 202)

Wird wirklich ein Heldinnenepos erzählt, ist Anne Beaumanoir eine Heldin? Sie ist wohl eine Heldin, aber »mit Brüchen« in ihrem Leben: Sie ist ein den anderen zugewandter, stets hilfsbereiter Mensch, »eine, die vielleicht nicht jedem, aber vielen ein Bett anbietet und ein Essen reicht« (S. 207). Im Alter lebt sie »alleine, klein und krumm«:

»Krumm nur ein bisschen und auch nur
von außen; im Innern ist sie gerade. So
gerade wie ein Mensch in dieser Welt nur
sein und leben kann.« (S. 204)

Zu ihrer Begegnung mit Annette schreibt Anne Weber:

»[...] Fast mehr,
als sie [= die Autorin] sie hört, ›sieht‹ sie sie sprechen, so
lebhaft und so freundschaftlich mit einer
Fremden, aber was heißt schon fremd, das
ist es eben, kein Mensch ist einem
anderen fremd, aber nur wenige
benehmen sich auch so.« (S. 206)

Anne Weber gelingt es in ihrem Buch, einen Menschen, der sich um Gerechtigkeit und Freiheit bemüht hat, auch in seinen Brüchen sichtbar zu machen und Leserin und Leser nahezubringen. Sie geht dabei in ihren »Kommentierungen« auf die mögliche Motivation einer solchen Heldin ein und darauf, dass diese sich auch verstrickt. Vermutlich ist dies, wenn man sich mit allen Kräften gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit einsetzt, kaum zu vermeiden.

Der deutsche Buchpreis, der Anne Weber für dieses Buch zugesprochen wurde, ist vollauf verdient.

 

PS: Die deutsche Ausgabe von Anne Beaumanoirs Autobiographie ist in 2 Bänden (2019/20) bei der Edition Contra-Bass erschienen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 19. Januar 2021 um 07:12

Eine sehr wunderschöne Rezension. Mit vielen Zitaten, die der Leserschaft zeigen, dass die Gedichtform kein Hindernis ist. Ging mir beim Lesen ebenso, dass ich dachte, ach, das ist nur äußerlich.

Schöner Buchpreissieger diesmal!

 

Steve Kaminski kommentierte am 25. Januar 2021 um 14:55

Danke! :-)

Ich hatte beim "Versepos" auch erst Bedenken - habe aber im Internet ins Buch reinsehn können und festgestellt, dass es gut lesbar ist. Darauf wollte ich dann in der Rezi auch hinweisen, damit sich mögliche Leser durch die Versform nicht von der Lektüre abhalten lassen.