Rezension

Auf der Spur einer historischen Frauenfigur in den Marschlanden

Marschlande -

Marschlande
von Jarka Kubsova

Bewertet mit 5 Sternen

Als die Geografin Dr. Britta Stoever mit Mann und schulpflichtigen Kindern nach Ochsenwerder an der Elbe zieht, stehen die Stoevers vor dem üblichen Spagat berufstätiger Paare. Philip, dem ihr hochmodernes Haus in den Marschlanden ein wichtiges Anliegen war, fühlt sich als unentbehrliche Führungskraft nicht für Haushalt und Kinder verantwortlich. Britta hat seit Jahren ihre Arbeitszeit reduziert und würde gern neu durchstarten. Eine Lehrtätigkeit an einer Hochschule setzt allerdings ihren vollen Einsatz voraus – und eine Neuverteilung der Care-Arbeit zwischen ihr und Philip. Unzufrieden mit ihrer (voraussehbaren) Situation befasst sich Britta im nebligen Herbst mit der geografischen Lage des Ortes an der Elbe – und mit der historischen Person Abelke Bleken, die 1583 in Hamburg als Hexe verbrannt wurde. Nach Abelke ist in Ochsenwerder eine Straße benannt – und Britta lernt passenderweise Ruth Grotjahn kennen, eine „Hiesige“, die sich dafür einsetzt, die Sichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit zu verbessern. „Männer erhalten für besondere Leistungen einen Gedenkstein…“, meint Ruth nüchtern zu dem Thema, ‚Frauen wurden eher in die Psychiatrie eingewiesen, wenn sie Ansprüche stellten‘, lässt sich der Gedanke fortsetzen.

Abelke Bleken war im 16. Jahrhundert eine angesehene, erfolgreiche Bäuerin, die ihren Hof allein führte und sich weigerte, ihren Besitz (zum Profit eines Ehemannes) geschickt durch Heirat zu vergrößern. Ihr Vermögen hatte bereits gierige Blicke auf sich gezogen, als in einer verheerenden Springflut der Deich zwischen ihrem Hof und der Elbe zerstört wird – und die Dorfgemeinschaft von ihr allein die Reparatur des Deichs verlangt. Einem (männlichen) Bauern wären in dieser Situation Tagelöhner zur Hilfe geschickt worden oder er hätte finanzielle Unterstützung erhalten. Dass niemand in der Not einen Finger rührt, wagen die Marschbauern offenbar allein gegenüber Frauen oder Hofbesitzern, die am Ende ihrer Kräfte sind. Das Ausgrenzen einer unbequemen Person aus der Gemeinschaft lässt knallharte finanzielle Interessen der Vereinigung der Deichgeschworenen vermuten, die ursprünglich ein Ehrenamt sein sollte.

Als Geografin kann Britta die Folgen der damaligen Flut in der Marschlandschaft von heute "lesen" und fängt sofort Feuer angesichts Abelkes Schicksals und der Auswirkung der Hexenverfolgung auf die gesamte Bevölkerung. Parallel zu ihrer Spurensuche führt ein aktueller Mobbing-Fall Britta den klassischen Ablauf von Mobbing vor Augen und die Rolle, die untätige Zuschauer darin spielen. Ein ungewöhnlicher Zufall. Jarka Kubsova demonstriert ihren Leser:innen damit eindringlich, dass es in Hexenprozessen zumeist nicht um konkrete Taten ging oder um Geständnisse, sondern darum, unbequeme Zeitgenoss:innen zu beseitigen.

Drei Frauen in ihrer Landschaft. Die historische Figur Abelke Bleken, eine berufstätige Mutter der Neuzeit und eine Sozialhistorikerin, die sich für mehr Sichtbarkeit historischer Frauenfiguren einsetzt, verknüpft Jarka Kubsova vor akurat recherchiertem historischem Hintergrund. Das Ausgeliefertsein der Marschbauern gegenüber den Wettergewalten, die Rolle einer selbstbewussten Hoferbin und die generelle Anerkennung der Leistung von Frauen verknüpft sie in runder, neutraler Sprache - mit wenigen authentischen Mundart-Dialogen.

Mit einem erhellenden Nachwort, inhaltlich und stilistisch ein hervorragender Roman.