Rezension

Berlin 1945: Neubeginn einer Freundschaft?

Die Bahnhofsmission -

Die Bahnhofsmission
von Veronika Rusch

Nachdem ich mit großer Begeisterung bereits den ersten Band rund um die Bahnhofsmission am Schlesischen Bahnhof in Berlin geradezu verschlungen habe, wurde auch mit dem zweiten Band bei mir die gleiche Begeisterung geweckt.

Erhält man im ersten Band detailreiche und auch spannende Informationen in das pulsierende Leben der Großstadt Berlin in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts und auch die zu dieser Zeit vorherrschenden gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, so beginnt dieser Roman viele Jahrzehnte später und greift die Ereignisse rund um das Kriegsende, ebenfalls in Berlin, auf.

Die Kriegsjahre sind weder an Alice noch an Natalie spurlos vorbeigegangen und das erste Aufeinandertreffen nach mehr als 35 Jahren, und dies auch noch an ihrer ehemaligen gemeinsamen Wirkungsstätte lässt zumindest bei Alice keine Wiedersehensfreude erkennen. Im Laufe der folgenden Tage gelingt es beiden zunehmend, Missverständnisse und Verletzungen offen an- und auszusprechen und es erfolgt so manche unerwartete Antwort auf nie geklärte Fragen. Dieses erneute und zunächst sehr zögerliche sich Nähern wird von der Autorin sehr empathisch und berührend dargestellt, wobei für mich gerade die Distanziertheit von Alice gegenüber Natalie herausragend beschrieben wird.

Trotz der großen zeitlichen Distanz in der Romanhandlung des ersten und jetzt des zweiten Bandes, werden wesentliche und entscheidende Aspekte und Ereignisse des Vorgängerbandes sehr geschickt in die Romanhandlung eingebunden. Dazu wählte die Autorin ein aufschluss- und inhaltsreiches Gespräch zwischen Alice und der herangewachsenen Tochter einer Nachbarin, woraus man genügend über den privaten und beruflichen Werdegang von Alice erfährt. Darüber hinaus finden sich im Laufe der Romanhandlung glücklicherweise auch einige bekannte Charaktere wieder und mehr als einmal war ich erleichtert, dass und wer den Krieg auf welche Weise überlebt hat. Und auch mir wichtigen Charaktere aus dem ersten Band wird ein klein wenig Raum gegeben und über ihr Schicksal bzw. ihren Verbleib aufgeklärt – ein für mich ganz entscheidender und wichtiger Aspekt.

Die Atmosphäre in Berlin, die Probleme und Schwierigkeiten im Alltag, individuelle Schicksale, die Trennung der Stadt in die verschiedenen Sektoren und auf der anderen Seite auch die aufkeimende Lebensfreude werden von der Autorin sehr bildhaft in Szene gesetzt und beschrieben. Die lesetechnische Zeitreise in diese Zeit, diese Stadt gelingt mühelos und es entsteht sogar eine leichte Wiedersehensfreude, bekannte Charaktere wieder treffen zu können und sie erneut eine Zeit lang begleiten zu können. Der Schreibstil ist leicht, verständlich, sehr empathisch und doch scheut die Autorin nicht davor zurück, auch auf erschreckende Weise tiefer in den Alltag der Bevölkerung und die individuelle Belastung, fast schon Gefahr, die von Soldaten der Besatzungsmächte ausgehen, einzugehen.

Der Roman schließt mit einer für mich sehr erfreulichen und harmonischen Entwicklung hinsichtlich Alice und Natalie. Dabei finden aber durchaus auch ernste Untertöne, wie die sich abzeichnende endgültige Trennung Berlins in einen Ost- und Westsektor eine nicht unwichtige Rolle und wird stimmig und überzeugend mit der Romanhandlung verwoben.

Erneut ein großartiger historischer Roman, der neben den Schwierigkeiten und Problemen der Nachkriegszeit aber auch immer wieder mit Szenen aufwartet, die Lebensfreude, Hoffnung und Optimismus verbreiten.