Rezension

Eine Geschichte über Neuanfang und Hoffnungen

Die Bahnhofsmission -

Die Bahnhofsmission
von Veronika Rusch

Bewertet mit 4 Sternen

Eine lesenswerte Geschichte im Nachkriegsberlin mit schönen Metaphern und bildhafter Sprache

Mit diesem Buch legt die Autorin den zweiten Teil ihrer Bahnhofsmission-Dilogie vor. Es ist sicherlich einfacher, den ersten Teil zuvor gelesen zu haben, aber es ist auch kein Problem, den zweiten vor dem ersten Teil zu lesen. Da zwischen beiden Bänden ein riesiger Zeitsprung liegt, steht der zweite Teil quasi als alleiniges Werk. Darüber hinaus bindet die Autorin viele Rückblenden ein, sodass die Geschichte der Figuren aus dem ersten Teil zumindest in Ansätzen dargelegt wird und die zweite Geschichte so verständlich bleibt. 

Die Geschichte um den Wiederaufbau der Bahnhofsmission nach dem 2. Weltkrieg beinhaltet viele unterschiedliche Handlungsstränge, die am Ende zwar alle aufgelöst werden, aus meiner Sicht aber hin und wieder etwas wenig Raum bekommen. So hätte ich mir gewünscht, dass die Geschichte um den Arzt der Mission etwas ausführlicher erzählt worden wäre oder auch die Geschichte um Nr. 15. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sich die Autorin eher konstruierter Zufälle bedient, als die Geschichten ganz zu erzählen. Ich gehe davon aus, dass die historischen Hintergründe sauber recherchiert sind, aber zu wenig vom Material Eingang in das Buch erhalten hat. Das ist etwas bedauerlich, macht die Geschichte aber nicht weniger lesenswert. Eventuell hätte hier ein Nachwort noch etwas Aufklärung schaffen können.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Alice. Sie ist eine starke Frau, die den Krieg überlebt hat und während des Krieges als Hilfskrankenschwester arbeitete. Bereits am Beginn des Buches wird klar, dass Alice eine Frau ist, die resolut ihrer Überzeugung folgt und nicht danach fragt, ob es den anderen Menschen immer passt, was sie entscheidet. Zudem ist sie überaus hilfsbereit und verurteilt Menschen nicht. Insbesondere letzteres ist eine Eigenschaft, die mir an diesem Charakter sehr gefällt.

Der Leser erfährt, dass Alice früher bereits in der Bahnhofsmission arbeitete und diese nun - nach dem Krieg - wieder aufbauen will. Dabei begegnen ihr viele Schwierigkeiten, denen sie sich  mit Hilfe ihrer damaligen Mitstreiterinnen und Oberst Wolkow entgegenstellt. Außerdem muss Alice einige Entscheidungen treffen, die den Leser zu der Frage bringen: Wie hätte ich gehandelt?

Alice’ Freundin Natalie taucht zusammen mit ihrer Tochter Claire wieder auf. Zunächst ist die Begegnung etwas kühl, aber im Laufe der Geschichte nähern sich die beiden Frauen wieder an. Natalie hat ihre Geschichte im Gepäck, die in diesem Teil recht kurz dargestellt wird, weil sie bereits im ersten Band erzählt wurde. Aber auch ohne dessen Kenntnis kann man die Verbindung der beiden Frauen gut verstehen. In diesem Zusammenhang macht die Autorin deutlich, wie zerrissen Alice hin und wieder in ihrer Gefühlswelt ist. Eigentlich würde sie gern, kann dann aber doch nicht. So ähnlich ergeht es ihr auch mit Oberst Wolkow, dem Alice sehr zugetan ist.

In Claire trifft man eine junge Frau, die Deutschland weder vor noch während des Krieges kennenlernte. Sie hat eine gewisse Abneigung gegen dieses Land, wie sie aus meiner Sicht nachvollziehbar ist. Außerdem ahnt sie, dass sie nicht alles über die Vergangenheit ihrer Mutter weiß. Claire habe ich als impulsiven Charakter kennengelernt. Ich mag sie im Grunde, aber ihre Verhaltensweisen wollen manchmal nicht zum Alter der Figur passen. Deshalb wirkt Claire oftmals deutlich jünger, als sie wirklich ist.  

Alles in allem sind die Charaktere gut gewählt. Hin und wieder hätte ich mir etwas mehr Tiefgang gewünscht. Mir fehlte das letzte Tröpfchen, um das Gefühl zu haben, durch die Augen der Charaktere auf die Geschichte zu schauen. Dennoch wirken die Figuren authentisch. Insbesondere einigen der Nebenfiguren verleiht die Autorin durch den Berliner Dialekt Authentizität. Das hat mich sehr gefreut und oftmals musste ich schmunzeln. 

Das zerstörte Berlin und die Bahnhofsmission stellt die Autorin sehr bildhaft dar. Sie nutzt dabei u.a. schöne Metaphern, die die Bilder unterstreichen. Man kann sich alles gut vorstellen. Die Autorin beschreibt aus meiner Sicht sehr gut und schafft es auch, die emotionalen Momente in den Ruinen einzufangen, die den Leser dann zwangsläufig berühren. 

Überhaupt ist der Schreibstil der Autorin leicht und eingänglich. Der Spannungsbogen bleibt stets gewahrt und es gibt keine Längen in der Geschichte. Es ist ein Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung, was aus meiner Sicht sehr gut in die Zeit passt, in der die Geschichte spielt. Auch erzählt die Autorin viel über die zwischenmenschliche Komponente zwischen Vertrauen wollen und Zweifel haben. Es ist schwer, in ehemaligen Feinden plötzlich Freunde zu sehen und genau das transportiert die Autorin sehr gut. 

Fazit:

Mir hat das Buch gut gefallen. Auch wenn es den Charakteren bisweilen etwas an Tiefgang fehlt und die einzelnen Schicksale und Geschichten hin und wieder wie nicht zu Ende erzählt wirken und es den einen oder anderen  konstruierten Zufall gibt, lohnt es sich, das Buch zu lesen.