Rezension

Bin nicht vollständig überzeugt

Mutters Lüge -

Mutters Lüge
von Monika Hürlimann

Nach einer begeisterten Rezension einer anderen Leserin wollte ich das Buch unbedingt kennenlernen. Marta wächst im kommunistischen Polen mit ihrem Zwillingsbruder Tomek bei ihrer allein erziehenden Mutter auf. Die Drei verlassen illegal das Land und ziehen nach Deutschland. Marta bemüht sich um die deutsche Sprache und möchte unbedingt Ärztin werden; wir werden in ihre Bemühungen gut eingebunden. Am Ende des Buches ist sie niedergelassene Psychaterin in der Schweiz; bis dort hin ist es ein langer und beschwerlicher Weg. Marta hat ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter und als an deren Grab eine alte Freundin der Mutter, plötzlich eine völlig andere Lebensgeschichte andeutet, brechen sich bei Marta tiefe und alte Emotionen und Ängste eine Bahn.
Ich finde die Beschreibung Polens vor der Wende sehr interessant; manches hat mich an die DDR erinnert, die ich kurz nach der Wende für einige Jahre kennenlernen durfte. Meine Wahrnehmung von Polen, dort habe ich 1997/1998 gearbeitet, unterscheidet sich natürlich gänzlich von Hürlimanns Beschreibungen aus der Zeit vor 1984; umso spannender für mich.
Ich konnte das Buch gut lesen und finde den Lebensweg von Marta interessant und spannend. Allerdings muss ich sagen, dass ich noch nie ein Buch über eine Frau gelesen habe, die so anders ist als ich. Ob es an der Kindheit in Polen mit den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen oder der Vaterlosigkeit, dem emotionslosen Verhältnis zur Mutter, familiärer Veranlagung zur Schwermut oder die Summe dieser Dinge ist kann ich nicht beurteilen; Fakt ist, ich verstehe kaum eine ihrer emotionalen Beschreibungen und auch einige der Handlungen nicht. Auffällig ist für mich, dass sie ihre eigenen Befindlichkeiten sehr präzise beschreiben kann, man aber wenig bis gar nichts über die Menschen um sie herum erfährt. Sie selbst fühlt sich z.B. ständig benachteiligt, nicht wahrgenommen, beschämt usw.; die Menschen um sich herum
behandelt sie aber nicht besser. Da ist der Zwillingsbruder schwul... muss er ihr aber in der Schwulendisco sagen: hat sie bis dato nicht gemerkt. Ihre Mutter ist älter als gedacht; hat sie nie gemerkt; wohlgemerkt als Ärztin. Der Zwillingsbruder meldet sich nach 7 Jahren; sie hatte wohl aber auch nicht zum Hörer gegriffen. Mein Empfinden war durchgehend, dass sie hohe Ansprüche an andere hat, die sie selbst aber nicht erfüllen kann. Außerdem gibt es für sie nur eine angemessene Reaktion anderer auf Erzählungen oder Erkrankungen von ihr; jede Abweichung davon sieht sie kritisch und verunsichert sie. Geschweige denn, dass sie es spannend findet, wenn andere anders denken oder handeln. Sie scheint eine erfolgreiche Psychaterin gewesen zu sein ( lt. Homepage ist sie nur noch für alte Patienten tätig und auch nicht mehr in Langzeittherapie); es fällt mir schwer mir vorzustellen, wie sie sich auf andere einlassen kann. Ihre Sprache ist selten ausgeglichen, eher extrem in beide Richtungen: polnische Landsleute, die in Berlin Discounter leerkaufen, 'beschämen sie
unsäglich'; 'enttäuscht und ohnmächtig' vernichtet sie einen Vordruck; 'das erschütterte mich mehr, als ich in diesem Moment begriff'. Oder eben 'berühren Bilder ihre Seele', 'kribbelt es in ihrer Magengegend, stark, unbekannt, angenehm', 'im unsäglichen Glücksgefühl schweigend'; 'rief ich begeistert'.
Ich tat mich schwer mit dem emotionalen Auf und Ab.
Wer die Lebensgeschichte einer emotional gebeutelten Frau, die zielstrebig ihren Weg verfolgt und dabei schonungslos in ihr Innerstes blicken lässt lesen möchte, wird hier bestens bedient. Wer sich wünscht, dass die ärztliche Ausbildung mit Fachrichtung Psychatrie zur Selbstreflektion führt, der wird enttäuscht. Marta ist am Ende des Buches noch genauso bei sich, wie am Anfang. Es ist ein Psychogramm einer Frau, die trotz ihres Berufes und der Aufarbeitung mit diesem Buch noch einen langen Weg vor sich hat.