Rezension

Eine Komplexe Lebensgeschichte

Mutters Lüge -

Mutters Lüge
von Monika Hürlimann

Bewertet mit 4 Sternen

„...“Übermorgen fahren mir nach Deutschland“, sagte die Mutter. „Für immer.“...“

 

Mit diesem Satz beginnt ein Roman, der das Leben der Autorin widerspiegelt und dabei eine Menge tiefgreifender Themen beinhaltet. Es geht um eine komplizierte Mutter – Tochter – Beziehung, um Lüge und Wahrheit und um die Frage, was Heimat ist.

Der Schriftstil ist häufig ernst und eine Spur melancholisch.

Alles beginnt im Jahre 1984. Joanna flieht mit ihren 15jährigen Zwillingen Marta und Tomek aus Breslau in die Bundesrepublik. Joanna fragt sich, wieso ihre Mutter perfekt Deutsch spricht und es ihren Kindern nie beigebracht hat. Noch ahnt sie nicht, welche Lebenslüge sich dahinter verbirgt.

Erst einmal erzählt Marta aus ihrem Leben. Sehr eindringlich wird das armselige Leben in Polen beschrieben. Mangel ist die Regel. Die Mutter arbeitet als Alleinerziehende hart. Trotzdem habe ich als Leser der Eindruck, dass sie ihr Privatleben nicht im Griff hat. Einerseits fehlt es an Ordnung und Regeln. Andererseits werden die ausgezeichneten Schulleistungen der Tochter als selbstverständlich hingenommen, während jeder noch so keine Erfolg des Sohnes eines Lobes wert ist. Martas Trauer darüber ist mit den Händen greifbar. Sie findet Halt und Liebe bei den Großeltern, die aber nicht ihre wirklichen Großeltern sind. Mit ihm führt sie auch Gespräche über die Lage in Polen.

 

„...“Opa, warum arbeiten alle und trotzdem hat kaum jemand etwas davon?“ „Das ist eine der Fragen, mit denen wir uns nicht laut beschäftigen dürfen, wenn wir Probleme vermeiden wollen.“...“

 

Angekommen in Deutschland sieht Marta zwar die Angebote in den Läden, doch das kann ihr Heimweh nicht mildern. Wieder fühlt sie sich allein gelassen. Die Mutter interessiert sich nicht für ihr Leben. Marta bemüht sich, die neue Sprache schnell zu lernen.

 

„...Zum ersten Mal seit der Ausreise dachte ich: Es wird gut. Jetzt kam es nur auf mich selbst an, ich musste das Beste aus der Situation machen...“

 

Ein Thema zieht sich wie eine roter Faden durch das Buch. Trotz dem besseren Leben und dem Studium der Medizin in Berlin bleibt für Marta Polen die Heimat. Sie geht mit offenen Augen durch die Zeit und sieht, dass auch in Deutschland vieles nicht in Ordnung ist. Die erstmalige Rückkehr nach Breslau nach der Wende wird sehr berührend und emotional beschrieben.

Praktikum und Facharztausbildung macht Marta in der Schweiz. Wieder gilt es, sich in einem neuen Land und mit einer anderen Sprache zurecht zu finden. Der Kontakt zur Mutter ist nur noch sporadisch. Mit den Jahren aber wird ihr die Schweiz zur Heimat.

Mittlerweile ist Marta 40 Jahre alt. Da passiert das, was der Klappentext des Buches ankündigt. Die Mutter stirbt. Ruth, eine nahe Bekannte, informiert Marta darüber, dass ihre Mutter nicht diejenige war, für die sie sich ausgegeben hat. Sie war in Wahrheit acht Jahre älter und trug einen anderen Namen. Ihre Lebensgeschichte bis zur Ankunft in Breslau, die sie allen erzählt hat, war eine Farce. Sie war Deutsche, nicht Polin.

Es bleiben dann nur noch wenige Seiten, um zu erfahren, wie Marta damit umgeht.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es wirft Fragen auf, die nicht so einfach zu beantworten sind. Die Frage, wo für den einzelnen die Heimat ist, ist nur eine davon.