Rezension

Der Kampf gegen einen Tiger und das Vergessen

Nachts, wenn der Tiger kommt - Fiona Mcfarlane

Nachts, wenn der Tiger kommt
von Fiona McFarlane

Bewertet mit 4 Sternen

Die 75-jährige Ruth fristet nach dem Tod ihres Mannes Harry ein recht eintöniges, einsames Leben in einem abgeschiedenen Haus an der australischen Küste. Sie meistert den Alltag trotz ihres Alters noch recht gut, wäre da nicht ein Tiger der nachts durch ihr Haus schleicht und der armen Ruth keine Ruhe lässt. Als dann auch noch eines Tages die auffällige Frida vor ihrer Tür steht und sich als vom Staat geschickte Pflegekraft vorstellt, gerät das geruhsame Leben der alten Dame ganz durcheinander. Durch die Ankunft Fridas kommt endlich wieder etwas Schwung und Farbe in Ruths eintönigen Alltag. Doch irgendetwas scheint mit Frida nicht zu stimmen, und dann taucht der Tiger wieder auf... oder wird Ruth allmählich verrückt?

Fiona McFarlane gibt die Einsamkeit und Melancholie der betagten Ruth sprachlich sehr anschaulich und einfühlsam wieder, sodass man direkt einen Zugang zu den Gedanken der Protagonistin erhält und die alte Dame mit ihrer etwas schrulligen Art - sie flucht leidenschaftlich gern - schnell ins Herz schließt. Ruth versucht zunächst noch an dem Rest Selbstständigkeit, der ihr im Alter geblieben ist, festzuhalten. Doch immer mehr merkt man, wie ihr die Kontrolle über das eigene Leben entgleitet und sie sich mehr oder weniger freiwillig in eine Abhängigkeit zu ihrer Pflegekraft Frida begibt. Zunehmend verwischen mit der Ankunft des Tigers die Grenzen zwischen Realität und Illusion, sodass der Leser beginnt daran zu zweifeln, was wirklich gerade geschieht und was bloß in Ruths Kopf passiert. Vieles bleibt so bis zum Schluss unklar, was mir sehr gut gefallen hat, da es sehr eindrucksvoll den Zustand einer alternden, wahrscheinlich dementen Frau wiedergibt. Besonders die Erzählweise aus Ruths Sicht und die metaphernreiche Sprache erlauben einen direkten Einblick in Ruths verworrene Gedankenwelt und sind meiner Meinung nach ein sehr gelungener Versuch Demenz zu versprachlichen.

Die Hilflosigkeit Ruths hat mich persönlich sehr traurig gemacht und zeichnet ein wirklich realistisches Bild vieler älterer Menschen, deren Partner bereits verstorben sind und deren Kinder weit entfernt leben und kaum mehr Anteil am Leben ihrer Eltern haben. Es ist erschreckend, wie hilflos die Protagonistin den Launen ihrer Mitmenschen ausgesetzt ist und wie sie ihr Leben immer weniger selbstständig beeinflussen kann.

"Nachts, wenn der Tiger kommt" ist ein berührendes Buch über das Altern, das Vergessen und die Einsamkeit, welches mich bewegt und zum Nachdenken gebracht hat. Es hinterlässt ein beängstigendes Gefühl, da einjeder sich früher oder später selbst in einer ähnlichen Lage wie Ruth wiederfinden kann. Aber ich denke, dass es wichtig ist sich auch mit Themen wie dem Altern auseinanderzusetzen und fand es gleichzeitig bedrückend als auch interessant, als junger Mensch einmal einen Blick in das Leben einer älteren Frau werfen zu können.