Rezension

Getigertes Altern

Nachts, wenn der Tiger kommt - Fiona Mcfarlane

Nachts, wenn der Tiger kommt
von Fiona McFarlane

Bewertet mit 4 Sternen

“Der drollige Spiegel, der Jeffreys Gesicht war, hatte es ihr verraten – , dass sie das Stadium erreicht hatte, in dem ihre Söhne sich ihretwegen Sorgen machten.”

Zitat, Seite 10

Ruth lebt seit dem Tod ihres Mannes ein einsames Leben in einem entlegenen Haus am Meer. Mit ihren Söhnen telefoniert sie nur gelegentlich, scheint ihnen durch das Altern ein Klotz am Bein. Alte Freunde gibt es nur wenige, für regelmäßige Besuche wohnen sie zu weit weg. So schleppt Ruth sich mühsam durch die Tage, beobachtet Wale, lauscht dem Rauschen des Meeres oder dem Tosen des Windes. Das Erledigen des Haushaltes gelingt ihr nur schleppend: Sie überlässt es vielmehr einem persönlichen Spiel und den darauf folgenden Zeichen der Natur, ob sie erledigt werden oder nicht.

“Sie sah aufs Meer hinaus und zählte die Abfolge der Wellen: Wenn es vor der nächsten großen weniger als acht kleine gab, würde sie den Sand vom Gartenweg fegen.”

Zitat, Seite 14

Eines Nachts vernimmt sie in ihrem Haus einen erdigen dschungelgleichen Geruch und das Schnauben und Schnaufen eines großen Tieres; ein vibrierendes Atmen, dass sie vor Angst erstarren lässt. Ruth ist sich sicher, dass ein Tiger durch ihr Wohnzimmer schleicht.

Am Tag darauf steht eine fremde Frau vor der Tür zum Garten, die behauptet, von den Behörden geschickt worden zu sein. Da Frida tüchtig ist und sich zuverlässig um alles kümmert, überlässt ihr Ruth nach und nach das Regime. Doch Frida kümmert sich nicht nur um den Hausputz, das Kochen oder Ruths Medikamente, sondern erlangt auch langsam aber sicher die Kontrolle über Ruth. Und während sich die alternde Ruth völlig auf Frida verlässt, entgleitet ihr Schritt für Schritt das Gefühl für die Realität.

Und irgendwann stellt sich die Frage: Ist Frida tatsächlich ein Geschenk des Himmels oder hegt sie ganz andere Absichten?

“Die Bedeutsamkeit erwuchs aus den Geräuschen, die sie hörte, und aus denen, an die sie sich nur erinnerte; sie lag irgendwo genau dazwischen, fand dort einen Platz, und wuchs.”

Zitat, Seite 65

“Nachts, wenn der Tiger kommt” ist ein intensiver Roman über das Älterwerden. Die Protagonistin Ruth schließt man sofort ins Herz. Durch ihr zunehmend hilfloses und verwirrtes Wesen möchte man sie am liebsten pausenlos in die Arme schließen und ihr bedächtig über den Kopf streicheln. Den schleichenden Prozess des Älterwerdens verdeutlicht Fiona McFarlane durch plötzliche Szenenwechsel zwischen Realität und Fiktion, die nicht immer leicht zu lesen sind. So gerät der schon im Titel erwähnte Tiger Zugang zur Geschichte. Ein surrealer Wegbegleiter, der für viel Aufregung und Irritationen sorgt. Nicht nur bei Ruthie, sondern auch beim Leser. Das Haus am Meer wird zum Dschungel, Ruths verstörtes Wesen zum Tiger.

Trotz ihres jungen Alters, ist es der Autorin gut gelungen, sich in die alternde Ruth hineinzuversetzen und ihr Altern sehr authentisch darzustellen. Die fortschreitende Demenz der Hausbesitzerin verbildlicht McFarlane durch abwechslungsreiche Szenen, in der Ruth zunehmend die Kontrolle über den eigenen Körper und ihre Gedanken verliert. Sie scheint oft wie betäubt, stetig im Kampf mit sich selbst. Während sie im einen Moment völlig klar bei Verstand ist, verwechselt sie Vergangenheit und Gegenwart im anderen, ruft nach ihrem verstorbenen Ehemann oder meint, noch immer auf Fidschi zu leben. So stößt auch der Leser nicht selten an seine Grenzen, scheint wie gefangen, vom unheimlichen Sog der Geschichte.

Bei Frida, die angeblich vom Staat als Haushaltshilfe geschickt wird, ahnt man von Anfang an nichts Gutes. Ihr Wesen ist anstrengend und kräftezehrend. Immer wieder gelangt eine neue Facette ihres undurchsichtigen Ichs zum Vorschein, täuscht und überfordert mich. Oft hätte ich ihr gerne einfach nur eine geklatscht oder sie gebeten, zu gehen. Doch Fridas wirsches Wesen scheint Ruth oftmals wie eine schallende aber notwendige Ohrfeige zu treffen, die sie aus ihrer Trance erwachen lässt, sie den Wunsch verspüren lässt, alte Freunde wiederzusehen oder mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Es ist ein Wechselbad der Gefühle.

So hat Fiona McFarlane mit ihrem Debüt ein undurchsichtiges und spannendes Werk geschaffen, das von Liebe, Vertrauen, einer gefährlichen Täuschung und dem Altern erzählt. Auf äußerst einfallsreiche und zugleich irritierende Weise hat sie meine Tage mit einer Geschichte gefüllt, die ich so schnell nicht vergessen werde.

"Sie hätte gern eine einzige Wolke am Himmel gesehen. Das wäre kuschelig und fröhlich und irgendwie tröstlich gewesen. Wenn ich eine Wolke sehe, dachte sie, bedeutet das, dass ich wieder hochkomme. Es bedeutet, dass ich nicht gefallen bin."

Zitat, Seite 219/220