Rezension

Die moderne Hexenverfolgung

Runa
von Vera Buck

Bewertet mit 5 Sternen

Das Salpêtrière in Paris - eine Raffinade der Hexenverbrennungen?

Dieser Gedanke verfestigte sich bei der Lektüre von Vera Bucks "Runa" und ließ sich trotz aller kriminalistischer Detektivarbeit gegen Ende des Buches auch nicht abschütteln.

Vera Buck jedenfalls macht diese psychiatrische Anstalt, die größte in Europa zum Mittelpunkt ihres Romans und lässt den jungen Arzt Johann Richard (kurz Jori) Hell aus der Schweiz dort auftauchen, um beim berühmten Neurologen Jean-Martin Charcot zu promovieren.
Allerdings schreiben wir die frühen 1880er Jahre, die Neurologie steckt in den Kinderschuhen (oder doch besser im Spanischen Stiefel?) und das Salpêtrière beherbergt nicht nur hilfsbedürftige Patienten, sondern auch abgeschobene Alte, aufgegriffene Prostituierte, gescheiterte Selbstmörder, Bettler und Geschlechtskranke. Auffälig viele Frauen liegen in den Betten, von ihren Ehemännern und Verwandten dorthin abgeschoben, um ihre Hysterie, eine häufige Diagnose jener Zeit, zu heilen.
Das sind Charcots bevorzugte Objekte, die er seinem wachsenden Publikum in den Vorlesungen vorstellt und sie vor aller Augen unter seiner Hypnose "tanzen" lässt. Charcots eiskaltes Gebahren, seine seelenlose Vorstellung von Heilung und sein über Leichen schreitender Wille zur Allmachtstellung über Mensch und Tier wird schon auf den ersten Seiten deutlich.
Doch Jori will unbedingt lernen. Er will von diesem großen Mann lernen, wie psychiatrische Leiden zu heilen sind. Er will seinen Doktor machen, um in der schweizerischen Heimat seine Jugendliebe Pauline Bleuler erst zu seiner Patientin und dann zu seiner Ehefrau zu machen.
Aus einer unüberlegten Reaktion heraus, bietet sich Jori während einer Vorlesung an, die Patientin, an der Charcot gerade "gescheitert" ist, am offenen Hirn zu operieren. Überrascht nimmt Charcot das Angebot an und das illustre Publikum, beiweitem nicht nur Studenten, schließen schon die ersten Wetten auf das Gelingen dieses Präzedenzfalls ab. Bis es soweit ist, müssen noch wochenlange Vorbereitungen getroffen werden.
Zeitgleich ermittelt der aus der Sûreté ausgeschiedene Lecoq in zwei ungeklärten Mordfällen. Die einzigen Hinweise sind merkwürdige Schriftzeichen an den Wänden und an einem Opfer. Der Witwer einer Ermordeten sucht ein Kind, für welches ihn seine Frau verlassen hat.

Eine spannende, aber zugleich entsetzliche Geschichte! Spannend, weil Joris und Lecoqs Erkundungen immer größere Zusammenhänge erkennen lassen, weil die "Uhr" für Jori tickt und man ihm als Leser endlich einen geistigen "Durchbruch" wünscht.
Entsetzlich, weil Namen und Orte real waren und sind (bis auf Jori und ein paar andere Figuren) und es unerträglich war, von all diesen Behandlungen, Zurschaustellungen und menschenverachtenden "Materialverschleiß" zu lesen. Die Masse an Frauen, die in die Salpêtrière eingeliefert wurde, die Art, wie ihr Wille gebrochen wurde und das Vergnügen, das, bis auf die völlig abgestumpften Krankenschwestern, ausschließlich Männer dabei hatten, der Verstümmelung von Körper und Geist beizuwohnen, bescherte mir Albträume. Hexenverbrennungen zogen wohl ähnliches Publikum an.

Und als ob das nicht schon genug Grauen wäre, gibt es noch andere gesitige Strömungen jener Zeit in Paris (und ganz Europa), denen Kinder zum Opfer fallen, die auf den Straßen für ihr Überleben arbeiten müssen...

Vera Buck geht hart an die Grenze des Erträglichen, beschwört aber gleichzeitig einen Kampfgeist herauf, der auch heutzutage an manchen Orten nötig ist.