Rezension

Düster, tiefgründig, spannend und ungewöhnlich auf die allerbeste Weise!

Sommer bei Nacht - Jan Costin Wagner

Sommer bei Nacht
von Jan Costin Wagner

* Spoilerfreie Rezension! *

Inhalt

Ein heißer Sommer. Es verschwindet: Ein Junge. Es taucht auf: Ein Teddybär. Zwei Ermittler mit ihren ganz eigenen Problemen sollen den Fall, der Parallelen mit einem Fall in Österreich aufweist, lösen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 einer Reihe
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive
Kapitellänge: sehr kurz
Tiere im Buch:  + Es wird Fleisch gegessen. Es werden aber keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, Pädophilie, Missbrauch von Kindern

Warum dieses Buch?

Das Buch wird als „literarischer Krimi“ bezeichnet – das, die positiven Rezensionen und der ungewöhnliche Schreibstil weckten in mir das Gefühl, dass ich dieses Buch auf keinen Fall verpassen sollte!

Meine Meinung

Einstieg (5 Lilien ♥)

„‘Wenn er niemandem aufgefallen ist, trotz der großen Bären. Dann ist er mit ihnen verschmolzen, hat ihnen vielleicht sogar ähnlich gesehen?‘
‚Den Teddybären?‘, fragt Ben.
‚Ja.‘“ E-Book, Position 357

Ich habe sofort und ohne Probleme ins Buch gefunden, obwohl der Schreibstil sehr ungewöhnlich ist. Gleich am Anfang ist man Zeuge der Entführung des kleinen Jungen und möchte natürlich wissen, ob es gelingen wird, ihn rechtzeitig zu retten.

Schreibstil (5 Lilien ♥)

„Die Worte verschwimmen wieder, dann verkleben sie, trocknen in Sekundenschnelle, sind hart und undurchdringlich wie Beton.“ E-Book, Position 1996

Der Schreibstil ist wirklich sehr ungewöhnlich und damit sicher auch nicht für jeden etwas, aber ich habe ihn von der ersten Seite an geliebt! Gerade weil er eben anders und etwas ganz Besonderes ist! Jan Costin Wagner geht mit Wörtern sehr sparsam um, fast wirkt das Buch stellenweise wie ein Experiment: Mit wie wenigen Wörtern kann ein Krimi geschrieben werden? Der Autor beweist: mit sehr wenigen! Nach der Lektüre dieses Buches kommt einem jedenfalls kurzzeitig jeder andere Roman sehr weitschweifig und redselig vor.

In „Sommer bei Nacht“ ist jeder Satz ist auf den Kern reduziert, da steht kein Wort zu viel. Die Formulierungen sind treffend und präzise, immer wieder gibt es auch Ellipsen und unvollständige Sätze. Sinneseindrücke blitzen wie kurze Bilder auf. Trotzdem ist die Sprache niemals oberflächlich– im Gegenteil, dem Autor gelingt es, in die Tiefe zu gehen und die Gefühle seiner Figuren intensiv zu beschreiben. Gleichzeitig weist die Sprache auch eine eigentümliche Schönheit auf, der ich mich nicht entziehen konnte. Die kreativen, außergewöhnlichen Metaphern und Beschreibungen überzeugen auf ganzer Linie!

Idee, Inhalt, Themen & Ende (5 Lilien ♥)

„‘Sie müssen ihn finden‘, sagt Dirk Meininger.
Ja, denkt er.
Endlich, das ist er, der Satz, der sich aus der Dunkelheit herausschält, der einzig wichtige.“ E-Book, Position 457

Mit „Sommer bei Nacht“ ist dem Autor ein ganz besonderer literarischer Krimi gelungen, der mit sprachlichen und erzählerischen Konventionen bricht. Immer wieder sind Ausschnitte aus der Werbung, aus Artikeln und Nachrichten, an die sich die Protagonisten unbewusst erinnern, den Kapiteln vorangestellt, was ich interessant fand. Sehr kurze Kapitel, mindestens 13 verschiedene Perspektiven, reduzierte Dialoge und die Enthüllung des Täters im ersten Kapitel machen dieses Buch zu einer ungewöhnlichen Lektüre, die besonders für VielleserInnen eine erfrischende Abwechslung darstellen dürfte.

Dadurch, dass der Täter von Anfang an bekannt ist, kann man sich bei der Lektüre nicht nur auf die Frage konzentrieren, ob der Junge rechtzeitig gefunden wird, sondern auch auf die psychischen Vorgänge im Inneren der Figuren. Neben den Ermittlungen stehen nämlich menschliche Abgründe im Vordergrund: Schwächen, Geheimnisse, psychische Labilität, Halluzinationen, Zweifel, Probleme, Verlust, eine schwierige Vergangenheit. Einer der Ermittler hat sogar selbst pädophile Neigungen, gegen die er immer wieder erfolglos ankämpft. Bei all seinen Themen gelingt es dem Autor, in die Tiefe zu gehen. Auch das Ende empfand ich als sehr gelungen. Insgesamt war für mich „Sommer bei Nacht“ eine ungewöhnliche, erfrischend andere und spannende Lektüre, die zwar manchmal merkwürdig war – aber das nur auf die allerbeste Weise! Daher wird es sicher nicht mein letztes Buch des Autors bleiben – die Fortsetzung werde ich mir nicht entgehen lassen.

Übrigens hat Jan Costin Wagner während der Arbeit an diesem Buch auch einige Lieder verfasst, die teilweise perfekt zur düsteren, melancholischen Atmosphäre passen. Wer sanfte, nordisch angehauchte Klänge mag, wird sich von Songs wie dem wunderschönen „Raven / A Bird Called Melody“ bestimmt (wie ich!) abgeholt fühlen. Wieso hat dieses Lied auf Youtube so wenige Klicks? Ich verstehe es nicht! Lasst euch diese Musik (vor allem, wenn ich das Buch schon gelesen habt) keinesfalls entgehen!

Figuren (4 Lilien)

Neben dem außergewöhnlichen Schreibstil überraschen auch die vielen Perspektivenwechsel: Der Täter, das Opfer, die Beamten und verschiedene andere Beteiligte kommen zu Wort. Kurz dürfen wir in ihren Kopf schauen und ihre Sicht der Dinge nachvollziehen. Diese vielen Perspektivwechsel sind mit Sicherheit nicht für jeden etwas, aber ich mochte sie und fand die Erzählweise sehr interessant. Spannenderweise ging das trotzdem nicht auf Kosten der Figurenzeichnung, denn diese wirkten dreidimensional und liebevoll ausgearbeitet. Ich hatte meist keine Probleme, mit den Protagonisten mitzufühlen und intensiv mitzuleiden. Ihre Verzweiflung oder Traurigkeit kam sehr intensiv bei mir an, was ich bei diesem reduzierten Schreibstil nicht erwartet hätte! Positiv erwähnen möchte ich auch noch den liebenswerten Lederer, einen pflichtbewussten, sanften, angenehmen Zeitgenossen, der immer als erstes im Büro ist und jeden Tag alles gibt – die Welt braucht mehr Leute wie ihn! ♥

Leider gibt es auch zwei Punkte, mit denen ich bei der Figurenzeichnung meine Probleme hatte. Einerseits muss man sich erst einmal daran gewöhnen, dass nicht nur der Erzählstil sehr einfach ist, sondern dass auch die Figuren auf die gleiche Weise denken und sprechen. Dadurch wirkten sie auf mich in den ersten Kapiteln irgendwie „einfältig“ und kindlich. Erst nach und nach habe ich mich an dieses Stilmittel gewöhnt. Zudem wirkten fast ausnahmslos alle Figuren auf mich psychisch sehr labil; ich wusste nie, was sie als Nächstes tun würden und vertraute ihnen nicht. Eventuell liegt auch das am Schreibstil und der ungewöhnlichen Erzählweise. Ich fand es interessant, aber manchmal auch befremdlich.

Mein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Hauptfiguren Ben und Christian. Beide waren gut ausgearbeitet (sie hatten verschiedene Lebensumstände und Geheimnisse) und ich hatte keine Probleme, mit ihnen mitzufühlen. Nur leider wirkten sie auf mich wie eine Person. Sie waren sich in ihrer Denkweise so ähnlich (hier gab es bei den Kapitel aus den verschiedenen Perspektiven überhaupt keinen Unterschied), dass ich sie ständig verwechselt habe und immer nachsehen musste, aus wessen Sicht ich die Geschichte gerade erlebe. Deshalb gibt es hierfür (weil mich der Rest des Buches so beeindruckt hat, nur) eine halbe Lilie Abzug. Ich würde mir wünschen, dass der Autor bei der Fortsetzung darauf achtet, dass man die beiden Protagonisten besser auseinanderhalten kann.

Spannung (5 Lilien ♥) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

Über Innsbruck: „[…] die fröhlichen Menschen sind von Bergen umzingelt. Das ist das Erste, was Christian wahrnimmt. Die Kluft zwischen Leichtigkeit und Bedrohung. Eine Bedrohung, die unverkennbar ist. Die über ihm aufragt wie ein schweigendes Monster, ohne Augen.“ E-Book, Position 724

In einigen Rezensionen habe ich gelesen, dass manche das Buch als sehr langweilig und spannungsarm empfunden habe. Das kann ich überhaupt nicht unterschreiben. Zwar handelt es sich bei „Sommer bei Nacht“ nicht um einen Thriller (das wird auch nicht behauptet), aber ich empfand den Krimi dennoch als sehr spannend. Eine subtile, psychologische Grundspannung durchzieht das Buch, die sich vor allem aus der Charakterentwicklung der Figuren ergibt. Viele von ihnen stehen an einem Abgrund, haben große persönliche Probleme. Ich empfand das Buch aber auch als sehr fesselnd, weil ich um das Leben des Jungen gebangt und gehofft habe, dass er rechtzeitig gerettet wird.

Auch die Atmosphäre im Buch fand ich wunderbar dicht, düster und unheilvoll. Zudem schwingt oft eine gewisse Melancholie und Traurigkeit mit, die ich sehr mochte. Obwohl die ganze Handlung im Sommer und in Deutschland (Wiesbaden) und Österreich (Innsbruck) spielt, zieht sich eine gewisse Kälte und Finsternis durch die Geschichte, die eigentlich für nordische Bücher typisch ist. Da überrascht es nicht, dass der Autor schon einige nordische Krimis geschrieben hat. Diese Einflüsse sind auch in „Sommer bei Nacht“ spürbar. Das Buch hat meiner Meinung nach ein gewisses Noir-Flair, was mir unheimlich gut gefallen hat.

Feministischer Blickwinkel (2 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---

Es gibt durchaus ein paar Aspekte, die mir hier gut gefallen haben: Es gibt im Buch keine frauenfeindlichen Beleidigungen und teilweise wird mit Geschlechterstereotypen gebrochen; manchmal werden sie aber auch verstärkt durch eine klassische Rollenverteilung in den Familien. Zwei Dinge haben mich leider massiv gestört: Erstens, dass das Buch den Bechdel-Test nicht besteht und zweitens, dass das Geschlechterverhältnis überhaupt nicht ausgeglichen war, sondern dass es viel mehr männliche Figuren als weibliche gab. Sehr negativ aufgefallen ist mir auch, dass es keine einzige weibliche Polizistin gab (die eine größere Rolle hatte), dafür waren die Angestellten in der Kantine klassisch weiblich... Das ist nicht mehr zeitgemäß! Wohin man blickt, sind alle Ermittelnden männlich, sogar der Beamte aus Innsbruck. Das finde ich wirklich sehr schade! Wenn es so wenige wichtige Frauenrollen im Buch gibt, ist es natürlich kein Wunder, dass der Bechdel-Test nicht bestanden wird. Hier würde ich mir wirklich wünschen, dass der Autor in Zukunft mehr Bewusstsein für dieses Thema entwickelt!

Mein Fazit

Mit „Sommer bei Nacht“ ist dem Autor ein ganz besonderer literarischer und tiefgründiger Krimi gelungen, der mit sprachlichen und erzählerischen Konventionen bricht. Ich mochte den präzisen, reduzierten, metaphernreichen und gleichzeitig schönen Schreibstil, habe intensiv mit den Figuren mitgefühlt und fand sowohl die subtile psychologische Spannung (die sich aus den menschlichen Abgründen ergibt) und die dichte, düstere und melancholische Atmosphäre mit nordischem Noir-Flair großartig. Für die Fortsetzung (die ich mir nicht entgehen lassen werde!) würde ich mir ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis (besonders bei der Polizei!), einen bestandenen Bechdel-Test und zwei Protagonisten, die leichter auseinanderzuhalten sind, wünschen. Insgesamt war für mich „Sommer bei Nacht“ eine ungewöhnliche, erfrischende und spannende Lektüre, die zwar manchmal etwas merkwürdig war – aber das nur auf die allerbeste Weise! Von mir gibt es daher eine große Leseempfehlung für alle, die offen eine neue Leseerfahrung sind. Taucht ein in diese Geschichte und findet heraus wie finster und kalt ein Sommer sein kann, wenn Jan Costin Wagner ihn beschreibt!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 4,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 5 Lilien ♥
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Protagonisten: 4 Lilien
Figuren: 4 Lilien
Spannung: 5 Lilien ♥
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 2 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀,5  Lilien

Dieses Buch bekommt von mir viereinhalb Lilien!