Rezension

Ein nachdenklich stimmendes, dys-/utopisches (?) Gesellschaftsporträt

Die Markierung -

Die Markierung
von Frida Isberg

Bewertet mit 4 Sternen

„Die Markierung“, das Debüt der isländischen Autorin Fríða Ísberg, besticht mit einer absolut originellen Idee, die auf nachdenkliche Weise auserzählt wird, ohne viel Action und immer dicht an den Charakteren und ihrer individuellen Existenz in der Gesellschaft. Manchmal vielleicht etwas handlungsarm, insgesamt aber ein extrem gelungener Roman, der auf interessante Weise zwischen Utopie und Dystopie schwankt.

 

Im Island der Zukunft hat sich ein sogenannter Empathie-Test etabliert, der Personen danach bewertet, ob sie funktionierende Mitglieder einer Gesellschaft sein können. Die Resultate des Tests sind öffentlich zugänglich, und wer ihn besteht („markiert“ ist), genießt gewisse Privilegien, während Nicht-Bestehende oder Menschen, die den Test gar nicht erst machen, der Zugang zu manchen Gebäuden, Stadtvierteln und Läden verwehrt bleibt. Die Debatte über den Test läuft heiß, als eine Volksabstimmung darüber ansteht, ob er verpflichtend eingeführt werden soll. Vier Figuren mit unterschiedlichen Perspektiven auf diese sogenannte Markierung begleiten durch die Geschichte, jede von ihnen mit ihren eigenen nachvollziehbaren Gründen für oder gegen den Test, jede von ihnen mit einer berührenden Biographie.

 

„Die Markierung“ ist keine actiongeladene Dystopie, sondern ein eher kurzer Roman, der einen ausschnitthaften Blick auf eine potenzielle zukünftige Gesellschaft wirft und dabei viele aktuelle Themen aufgreift: Solidarität und Verantwortung, Ausgrenzung und Klassenunterschiede. Fríða Ísberg gelingt es hervorragend, die verschiedenen Argumente pro oder contra Markierung anhand lebendiger und nachvollziehbarer Charaktere auszuführen und damit einen intensiven Denkprozess in Gang zu setzen. Manchmal verharrt ihr Roman allerdings zu sehr in der Betrachtung, und etwas mehr Triebkraft in der Handlung würde dem Buch nicht schlecht tun, ebenso wie ein etwas größerer Umfang, denn aufgrund der Kürze des Romans und der Aufteilung auf vier Perspektiven bleibt doch überall noch Luft für mehr Ausführlichkeit. Nichtsdestotrotz hat dieses Ausschnitthafte auch seinen Reiz, denn es unterstreicht, dass es kein Buch über bestimmte Menschen ist, sondern ein Buch über eine Gesellschaft. Dass es sich dabei gerade um die isländische Gesellschaft handelt und der Schauplatz Reykjavík häufig eine Rolle im Roman spielt, ist gerade für Island-Fans noch ein zusätzliches Sahnehäubchen.

 

Ein Roman mit einer außerordentlichen und einzigartigen Grundidee und vielen Ansatzpunkten für Diskussionen und Gedankenspiele. Anspruchsvolle Literatur mit dem gewissen isländischen Etwas!