Rezension

Eine Auszeit in Irland

Long Island -

Long Island
von Colm Toibin

Bewertet mit 3 Sternen

Nett geschrieben, ohne Frage, aber auch banal. All diese Leute, die ihre Probleme dadurch zu lösen versuchen, dass sie in fremde Betten steigen: befremdlich.

Eilis Lacey schwankte in ihrer Jugend zwischen zwei Männern. Da war einerseits der charismatische Tony in den Staaten und dann der in der irischen Heimat gebliebene Jim, ihre Jugendliebe.

„Long Island“ setzt die Story von Eilis Firello aus „Brooklyn“ fort, was man aber nicht kennen muss, um die Story zu verstehen. Die Protagonistin hat Tony geheiratet, ihn in den Anfängen ihrer Beziehung mit Jim betrogen und sich schließlich doch für Tony und Familie in den Staaten entschieden. Seit 20 Jahren lebt sie dort mit der italienischstämmigen Familie von Tony. Sie lebt mit ihr und wird von ihr kontrolliert. Wöchentliche, ausgiebige Sonntagsessen mit allen sind Pflicht. Am Tisch hat man nett Konversation zu führen und den neuesten Klatsch durchzuhecheln. Konflikte sind unerwünscht.
Als Eilis es wagt, ihrem Schwiegervater, der gerne Plattheiten heraushaut, zum Thema „wir sterben gerne für das Vaterland“ ernsthaft zu widersprechen, wird sie von ihrer Schwiegermutter unter einem fadenscheinigen Vorwand von der Pflicht weiterer Teilnahme an den sonntäglichen Veranstaltungen entbunden.
Obwohl Eilis durchschaut, dass sie als „nichtitalienisches Element“ in der Familie nach all den Jahren immer noch keinen Stand hat, wenn es darauf ankommt, ist ihr der sonntägliche Freiraum lieber als Kampf um echte Anerkennung. Schließlich weiß sie sich von Tony geliebt. Das sollte reichen.
Aber dann, kommts ganz dicke. Denn Tony hat sie betrogen und nicht nur das, er hat auch noch ein Kind gezeugt. Und auch nicht nur das, sondern, man erwartet von ihr, dass sie dieses Kind in ihrem Haushalt mit großzieht. Eilis packt ihre Koffer und haut ab nach Irland. Geht sie für immer oder nimmt sie sich nur eine Auszeit in der alten Heimat? Seit 20 Jahren war sie nicht mehr dort. Aber Irland ist Irland, dort stehen die Uhren still. Oder doch nicht?

Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Die Handlung konzentriert sich schnell auf das Geschehen in Enniscorthy. Dort ticken die Uhren tatsächlich anders. Es hat sich nicht allzu viel verändert. Aber manches schon. Der Roman ist hier eher handlungsarm und dialoglastig und dreht sich um die Beziehung Eilis zu ihrer Familie und den alten Freunden. Diese haben, oh Wunder, nicht auf Eilis gewartet und Eigeninteressen entwickelt. Trotzdem bringt Eilis die Community durch ihre bloße Anwesenheit durcheinander.
Konzipiert als verbindendes Mittelstück in der „Eilis Lacey Trilogie“ überzeugt Long Island nicht so richtig. (Dass es einen weiteren abschließenden Band geben muss, impliziert das Buch mit seinen ungelösten Angelegenheiten, aber ich habs auch irgendwo gelesen, aber nicht verifiziert).
Dass man sich vor häuslichen Problemen flüchtet und eine Auszeit nimmt, ist verständlich. Aber die Probleme dadurch lösen zu wollen, dass man denselben alten Fehler ein zweites Mal begeht, ist eine befremdliche Vorgehensweise. Und das ständige Gerangel um einen Kerl, der sich nicht klar positionieren kann, ist doch gegessen und nicht interessant genug für einen ganzen Roman. Und sollte Eilis nicht endlich mal ihre Probleme zu Hause angehen anstatt alte Lieben aufzuwärmen? Man spürt deutlich, dies wird (erst) im dritten Band geschehen. Diesen dritten Band würde ich gerne lesen, obwohl mir "Nora Webster" nicht besonders zusagte mit seiner altmodischen Protagonistin Nora. Colm Toibin sollte also künftig alles heraushauen, um mich endlich literatisch von sich zu überzeugen. Bist jetzt ist es noch nicht so weit. Go, Colm, go!

Fazit: Ein Blick in das Innenleben der Figuren von „Brooklyn“ mit befremdlicher Problemlösungsstrategie. Liest sich freilich leicht weg und ist mit den alten Figuren von Brooklyn für die Fans desselben sicher spannend.

Kategorie: Gute Unterhaltung
Verlag: Hanser, 2024