Rezension

Exzeptionell

Das dritte Licht -

Das dritte Licht
von Claire Keegan

Bewertet mit 5 Sternen

"Ihre Hände sind wie die meiner Mutter, aber sie haben noch etwas anderes an sich, etwas, das ich noch nie zuvor empfunden habe und wofür ich keinen Namen weiß. Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein neuer Ort, und ich brauche neue Wörter."

Claire Keegans Novelle ist 95 Seiten kurz, aber so gehaltvoll wie ein dicker Wälzer. Es braucht nur wenige Seiten, bis sie uns in ihren Bann geschlagen hat: Wir sind zu Komplizen der Protagonistin geworden, ihre Wünsche und Kümmernisse sind die unseren.

Dabei ist das, was Keegan ihre namenlose Ich-Erzählerin berichten lässt, ganz unspektakulär, oder so scheint es auf den ersten Blick. Ihre Kunst besteht im Weglassen, die Form der Leerstellen trägt entscheidend zum Gesamtbild bei. Die Struktur ist von kristalliner Klarheit: Wir beginnen am Anfang, werden linear durch die Gegenwart geführt und enden beim unvermeidlichen Ende. Das heißt nicht, dass die Story vorhersehbar ist – in der zweiten Hälfte gibt es einen Bruch, der so überraschend wie erschütternd ist. Zeitlich lässt die Erzählung sich in den frühen 80ern verorten; der irische Hungerstreik, die EWG, der Butterberg.

Ohne jede Erklärung und ohne Abschied wird die Erzählerin von ihrem Vater bei offenbar kinderlosen Verwandten der Mutter in Pflege gegeben, denn diese steht kurz vor der Geburt eines weiteren ungewollten Kindes. Trotz der heiteren Atmosphäre auf der gut geführten Farm ist etwas Trauriges um  die Kinsellas, und  es gibt einige Rätsel, die die Erzählerin registriert, aber in ihrer Unschuld nicht zusammenbringt. Souverän vermeidet Keegan den frühreifen Ton, der sich oft in Kinderperspektiven einschleicht. „Fräulein Langbein“, wie John Kinsella sein Pflegekind nennt, hat die perfekte Balance zwischen Naivität und kindlicher Cleverness.

Die Familie der jungen Erzählerin ist die Verkörperung eines irischen Klischees: Die überforderte und ausgelaugte Mutter ist ständig schwanger, es gibt viele Kinder, der Vater trinkt und spielt und hält nicht viel von Arbeit, Elend und Armut herrschen. Aber dennoch steht diese Geschichte in ihrem eigenen Recht, denn das ist nicht die Story, sondern das Setting für das, was Keegan wirklich erzählen will. Fräulein Langbein lernt in diesem kurzen Sommer, was eine Familie sein kann, was ein echtes Gespräch ist, was Liebe und Fürsorge sind und sie lernt sehen – und das ist wahrlich herzzerreißend – was sie zu Hause nicht hat.

„Kinsella nimmt meine Hand in seine. Sobald er sie nimmt, merke ich, dass mein Vater kein einziges Mal meine Hand gehalten hat, und ein Teil von mir will, dass Kinsella mich loslässt, damit dieses Gefühl vergeht. Es ist ein hartes Gefühl […].“

Sie lernt aber auch vieles über die Grausamkeit der Dorfbewohner, die die Kinsellas neidisch und missgünstig beobachten. Und sie lernt, sie und sich davor zu schützen. Keegans Figurenzeichnung, nicht nur der Dorfbewohner, ist meisterhaft in ihrer Knappheit. Bei den Kinsellas verzichtet sie klugerweise darauf, sie über die Maßen zu idealisieren. Wie diese am Abend eines arbeitsreichen Tages mit ihren lauten Freunden Karten kloppen, lachen und feiern, das verleiht ihnen bodenständige Glaubwürdigkeit.

Das offene Ende der Novelle entfaltet eine ungeheure emotionale Wucht – und wirft die Frage auf, ob es gut oder grausam war, die Erzählerin diese Erfahrung machen zu lassen, nur um sie ihr wieder zu entziehen.

Wie Keegan die ganz elementaren Dinge unserer menschlichen Existenz auf engstem Raum verhandelt, das ist ganz große Kunst. Ein exzeptionelles Buch. Lesen!