Geflüsterte Worte mit unglaublicher Kraft
Claire Keegans Erzählung über ein namenloses Mädchen, das seine Eltern zu fremden Verwandten geben, bei denen es lernt, wie Liebe sein kann, dass eine tiefe Verbundenheit auch abseits von elterlicher Liebe möglich ist und mehr noch: sogar tiefer gehen kann, erzählt so viel mehr, als dort geschrieben steht. Die große Kunst der Autorin besteht darin, so viel mehr zu sagen, anzudeuten, Preis zu geben, zur Debatte zu stellen, als sie Worte verwendet.
Denn die Geschichte ist - oder vielmehr: scheint - schnell erzählt: Die Ich-Erzählerin, deren Name die gesamte Zeit über ungenannt bleibt, wird von ihren verschuldeten oder doch wenigstens in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten befindlichen Eltern zu den kinderlosen Kinsellas, einer Tante und ihrem Ehemann, gegeben. Die Beziehung der Erwachsenen ist höflich-distanziert, fast entfremdet und bis auf Smalltalk über das Wetter hat man sich eigentlich nicht viel zu sagen. Das spiegelt sich auch in der Beziehung zum Kind wider: Das Mädchen weiß kaum, wer denn eigentlich „zur Sippe ihrer Mutter gehört“, und so umschleichen sie einander wie Fremde, die Kinsellas darauf bedacht, zugänglich zu sein, das Kind willkommen zu heißen, ihm die Ankunft leicht zu machen, und das Mädchen darauf, höflich, irgendwie nützlich zu sein, damit es keinen Ärger gibt. Beide sind bemüht, das Beste aus der Situation zu machen. Doch schnell merkt das Mädchen, dass es um seiner selbst willen tatsächlich geliebt, beschützt, in das Familienleben integriert wird. Die Kinsellas schaffen ein Zuhause, dass das Mädchen so nicht kannte und das es nicht wieder hergeben will.
Was scheinbar schnell erzählt scheint, ist es eigentlich nicht. Da ist mehr. Mehr zu dem Mädchen, zu den Kinsellas, zu den Eltern, zur Gesellschaft, die zu allem eine Haltung hat, da ist ein Diskurs über Liebe und Bindung, Kinderarmut und Kindeswohl, die verhandelt werden. Allerdings nur mit wenig Worten. Viel mehr jedoch zwischen den Zeilen. Dort erzählt Keegan die Geschichte weiter, verleiht ihr Tiefe, füllt sie mit (mehr) Bedeutung. Einiges wird beim zweiten Mal lesen erst deutlich. Mit jedem neuen Abschnitt ist man als Leser*in geneigt, gefällte Meinungen noch einmal neu zu bewerten, zu relativieren. Ein Schwarz-Weiß-Denken ist völlig unmöglich.
Keegans Worte sind klar wie Wasser, ihre Sprache besitzt einen unfassbaren Sog, und ihre große Stärke liegt darin, dass sie mit Leerstellen weiter oder eigentlich erst richtig erzählt. Sie schafft Atmosphäre, auch und vor allem dadurch, dass vieles unausgeschrieben, ungesagt bleibt. Dadurch schafft sie es zugleich, keine moralische Bewertung vorzugeben, sondern als neutrale Stimme auf die gesellschaftlichen Missstände, Schwierigkeiten, nicht nur in Bezug auf Irland, aufmerksam zu machen.
Bezeichnender Weise ist die Ich-Erzählerin namenlos und dadurch Stellvertreterin und Identifikationfigur.
5 von 5 Sternen und die Hoffnung, dass es noch mehr Leserunden zu Claire Keegan geben wird!