Rezension

Freiheit in den Tod

Abels Auferstehung -

Abels Auferstehung
von Thomas Ziebula

Bewertet mit 4 Sternen

Zeit ist relativ. Diesen Satz habe ich in jungen Jahren nie so richtig verstanden. Nun, wo meine Jugend doch schon etwas her ist, habe ich da ein besseres Verständnis. Mein 16jähriges Ich ist mir nämlich manchmal näher als mein allzu nahes zukünftiges 40jähriges Ich. Mir also Leipzig vor 100 Jahren vorzustellen ist bei meinem Zeitverständnis eine enorme Gedankenleistung – es changiert zwischen Mittelaltersetting und dem Leipzig von quasi vorgestern. Mittelalterlich ist es 1920 aber nun wirklich nicht in der sächsischen Großstadt. Der Erste Weltkrieg ist noch überall präsent, die Weimarer Republik steckt in ihren Kinderschuhen und die wirtschaftliche sowie politische Situation ist äußerst angespannt. Aus der Kriegsgefangenschaft kehren traumatisierte Soldaten zurück in die Heimat, die versuchen müssen ihren Platz in der Gesellschaft wieder zu finden. In vielen Familien aber bleiben die Stühle des Vaters, Sohnes oder Bruder leer. Der Krieg hat in bisher unbekanntem Ausmaß seinen Tribut gefordert. Auch Paul Stainer ist noch nicht lange wieder zurück in Leipzig und doch hält dieser trübe Februar 1920 bereits den zweiten Kriminalfall für ihn bereit, der sich ausgerechnet um einen ermordeten Kriegsheimkehrer dreht.

Thomas Ziebula hat sich für seinen zweiten Stainer-Roman ein – zumindest für einen Krimi - recht komplexes Figurenensemble aufgebaut und vielfältige gesellschaftliche wie historische Themen in seinen Fall verwoben. Es liest sich wie eine kleine unterhaltsame Geschichtsstunde mit hohem Spannungsbogen und Eindrücken, die lange nachhallen. Für mich ist „Abels Auferstehung“ der erste Fall mit Paul Stainer und natürlich empfinde ich da ein paar erzählerische Lücken, die aber an sich keinen Einfluss auf den aktuellen Fall haben. Es ist eher die Neugier, wie Stainer wohl in Band 1 eingeführt wurde? Wie es dazu kam, dass er nicht mehr mit seiner Frau zusammen war, obwohl er sie offensichtlich nach wie vor liebt und was genau dazu führte, dass er mir nun in Band 2 zum ersten Mal ausgerechnet sturzbetrunken von ihrer Beerdigung kommend begegnet?

Entgegen vieler anderer Krimis nimmt sich Thomas Ziebula Zeit für seine Figuren, den männlichen wie den weiblichen, und gestaltet sie aus. Den einen Charakter mehr, den anderen weniger. Sein Kommissar ist ein Sympathieträger, obwohl dieser mit dem Tod seiner Frau und dem Kampf gegen seine Kriegsneurose und politische Widersacher auf dem Revier einiges zu schultern hat. Man hat das Gefühl, er sieht in erster Linie die Menschen und nicht die Mordfälle. Ziebula lässt aus wechselnden Perspektiven erzählen. Dabei sollte man wachsam sein, denn mitunter muss eine erzählende Figur auf unschöne Art ihr Leben lassen. Eingestreute Bekenntnisse des Mörders halten die Spannung aufrecht und erhöhen die Angst um bereits liebgewordene Charaktere. Ziebula ist ein Erzähler durch und durch. Es geht ihm weniger um die detailreiche Ausschmückung des blutigen Verbrechens als vielmehr um die ausgestaltete Verstrickung seiner Figuren in die Geschichte. Er lässt dem Leser Freiraum für die eigene Fantasie und doch ist man ganz nah dabei und überblickt zuweilen die Situation besser als der ermittelnde Kommissar. In meinen Augen ein kluger erzählerischer Schachzug, denn warum fesselt mich ein Krimi als Leser so ungemein? Weil ich von Seite 1 an mit ermittele und ab Seite 10 dann meine zu wissen, wer hier der Übeltäter war. Zwischendrin lasse ich mich gern in die Irre führen, um dann kurz vor der Auflösung mit einem minimalen Vorsprung vor dem Kommissar den wahren Täter zu erkennen. Wie nebenbei entsteht vor meinem inneren Auge dabei ein historisch-komplexes Bild dieser Stadt und seiner differenten Bewohner im ausgehenden Winter des Jahres 1920. Gerne mehr davon.