Rezension

Grandioses, höchst unterhaltsames Debüt - eines der besten Bücher des Jahres!

Vater unser - Angela Lehner

Vater unser
von Angela Lehner

~ Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein originelles, erfrischendes und höchst unterhaltsames Debüt geschaffen. Der Schreibstil ist unglaublich angenehm zu lesen und hat einen charmanten österreichischen Einschlag. Mit entwaffnender Ehrlichkeit, genialem Humor und sehr gelungenen sprachlichen Bilder entzückt die Autorin das Leserherz. Die Geschichte ist wendungsreich und unvorhersehbar und überzeugt mit einem interessanten Setting (einer schon etwas heruntergekommenen Psychiatrie) und einer manipulativen, hochintelligenten, komplexen, traumatisierten Protagonistin, die einem schneller ans Herz wächst, als es einem lieb ist. Zahlreiche (auch unschöne) Themen wie psychische Krankheiten, die Frage nach unserer subjektiven Realität, Familie, Schmerz, Verlust, Kindheit und unverarbeitete Traumata behandelt die Autorin eindrucksvoll und tiefgründig. Eines wird schnell klar: Dieses Buch kann nicht nebenbei gelesen werden, denn sehr viel steckt zwischen den Zeilen und wird nur angedeutet. Lediglich am Ende hätte ich mir noch mehr klare Antworten auf meine Fragen gewünscht – andererseits, vielleicht ist es auch gerade dieses kompromisslose, völlige Abtauchen in der Psyche dieser schwer verstörten Protagonistin, das dieses Buch so großartig macht. Auf mich übte die spannende Geschichte jedenfalls eine so große Sogwirkung aus, dass ich das Buch kaum beiseitelegen konnte. Kurz: Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein unvergessliches Debüt geschaffen, das absolut zu recht mit Lob überschüttet und gehypt wird. Für mich eines der besten Bücher 2019! Unbedingt lesen! ~

Inhalt

Eva Gruber landet in der psychiatrischen Abteilung des Otto-Wagner-Spitals in Wien. Hingebracht wird sich auf der Rückbank eines Polizeiwagens, weil sie nämlich behauptet, eine Kindergartenklasse im Zuge eines Amoklaufs getötet zu haben. Der Chefpsychiater Korb nimmt sich ihrer an und versucht, einen Blick hinter die von Eva sorgsam nach außen getragene Fassade zu erhaschen. Eine Suche nach der Wahrheit, die nicht nur für Korb, sondern auch für die LeserInnen dieses Romans zu einer Herausforderung wird…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 284
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens & Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive (Eva)
Kapitellänge: eher kurz
Tiere im Buch: - Für TierfreundInnen ist dieses Buch nicht immer einfach zu ertragen: Es wird darin viel Fleisch gegessen, es werden Fische getötet, es gibt umherstreunende Bauernkatzen, unglückliche Tiere im Zoo, zerstampfte Regenwürmer, verletzte Käfer, es ist von kindlichen Tierquälereien die Rede (keine genauen Beschreibungen) und bei Vergleichen wie „wie ein verdroschener Welpe“ schwingt auch nicht gerade Tierliebe mit.

Warum dieses Buch?

Zuerst hat mich das auffällige Cover ja ehrlich gesagt ein bisschen abgeschreckt, doch als ich immer mehr begeisterte Leserstimmen vernahm und schließlich auch den Klappentext las, wusste ich, dass ich mir dieses Buch nicht entgehen lassen darf. Die unheimlich lustige, coole Art der Autorin auf Instagram hat mir dann sozusagen noch den Rest gegeben. Ich musste dieses Buch lesen – ich musste!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg in den Roman ist mir wunderbar leicht gefallen, denn: Die Geschichte ist wirklich ein Lesegenuss – und dieser beginnt schon auf den ersten Seiten, als man Eva kennenlernt und neugierig verfolgt, wie die Geschichte weitergeht.

"Auf einem handbestickten Tischtuch liegt ein Rosenkranz neben einem gerahmten Porträtfoto von Jörg Haider. Darüber hängt ein kleiner Jesus auf einem Kreuz herum.
'Mein Gott' , sag ich, 'sind wir in Kärnten?'" E-Book, Position 37

Schreibstil (♥)

Der Schreibstil ist möglicherweise das Beste am ganzen Buch. Er ist einfach gehalten, anschaulich und unglaublich angenehm zu lesen – er zergeht einem fast auf der Zunge. Angela Lehner verzichtet auf prätentiöse Schachtelsätze und hochgestochenes Vokabular, sondern schreibt erfrischend klar, bodenständig, unaufgeregt, witzig und gnadenlos ehrlich. Sie verzückt das LeserInnenherz immer wieder mit originellen, sehr gelungenen Metaphern und Vergleichen. Die Suche nach schönen/gelungenen Zitaten für meine Rezension gestaltete sich so schwierig wie nur selten zuvor: Es gibt einfach viel zu viele davon!

Besonders toll finde ich am Schreibstil außerdem, dass die Autorin nicht versucht, das Österreichische aus ihrer Sprache zu tilgen, wie viele andere AutorInnen das machen. Im Gegenteil: Angela Lehner ist sich ihrer Herkunft bewusst und lässt auf charmante Weise österreichische Begriffe, Dialekte und den typischen „österreichischen Schmäh“ einfließen. Jedoch können sich auch Nicht-ÖsterreicherInnen ohne Angst vor Verständnisschwierigkeiten an dieses Werk heranwagen, da die österreichischen Begriffe niemals überhandnehmen. Ich fühlte mich jedenfalls sofort in diesem Buch zu Hause!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufenthaltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.“ E-Book, Position 172

Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein unvergessliches, unheimlich originelles und wahnsinnig unterhaltsames Debüt mit zahlreichen unerwarteten Wendungen geschaffen, das zu recht mit Lob überschüttet und gehypt wird. Die stets unvorhersehbare Geschichte handelt von Eva Gruber, einer (wie sie sich selbst bezeichnet) „Verrückten“, die in der Psychiatrie versucht, sich ihrem schwer magersüchtigen Bruder wieder anzunähern und ihn zu beschützen. Sie hat auch schon eine Idee, weiß genau, was getan werden muss, um ihn zu retten: Der Vater muss durch ihre Hand sterben. In der Psychiatrie, zwischen familiären Diskussionen, Gesprächen mit ihrem Psychiater und Musiktherapie, feilt Eva an ihren Plänen für dieses Vorhaben. Immer wieder fragt man sich beim Lesen: Wie konnte es so weit kommen? Was ist mit Eva geschehen? Wie ist sie so geworden? Durch die zahlreichen Rückblenden in die Kindheit von Eva und Bernhard wird deutlich, dass irgendetwas passiert sein muss, das Eva schwer traumatisiert hat. Ein Trauma, von dem sich beide Kinder noch immer nicht erholt haben. Was genau vorgefallen ist, wirft Rätsel auf.

„Vater unser“ kann mit Sicherheit auch als eine Milieustudie betrachtet werden, die sich mit dem Alltag in einer Psychiatrie und der Kindheit in einem konservativen Dorf auf dem Lande beschäftigt. Dabei ist die Atmosphäre so dicht, dass man sich fast fühlt, als würde man selbst im Jogginganzug durch die Korridore des Otto-Wagner-Spitals schlendern. Zahlreiche (auch unschöne) Themen behandelt die Autorin eindrucksvoll und tiefgründig: Es geht um psychische Krankheiten, um Gewalt gegen Kinder, um die Frage nach unserer subjektiven Realität, um Familie, Schmerz, Verlust, Kindheit und unverarbeitete Traumata. Über weite Strecken bedenkt die Autorin Österreich mit liebevollem Spott, immer wieder wird ihre (Gesellschafts)Kritik aber auch schärfer, was für mich sehr gut funktioniert hat.

Dieses Buch kann trotz des über weite Strecken lockeren Tons keinesfalls nebenbei gelesen werden – sonst ist das Risiko, wichtige Hinweise zu verpassen, zu groß. Sehr viel steckt nämlich zwischen den Zeilen, wird nur angedeutet. Die Suche nach der Wahrheit in Evas Geschichten und Wahrnehmung gestaltet sich äußerst schwierig. Was ist real? Was ist wirklich passiert? Was existiert nur in Evas Einbildung? Was sagt sie, um die Menschen in ihrem Umfeld zu manipulieren? Man weiß es nicht – bis zum Schluss, der leider sehr vage bleibt. Hier hätte ich mir noch mehr Informationen gewünscht (vielleicht ein Kapitel aus einer anderen, neutraleren Sicht) – andererseits, vielleicht ist es auch gerade dieses kompromisslose, völlige Abtauchen in der Psyche dieser schwer verstörten Protagonistin, das dieses Buch so großartig macht!

Protagonistin (♥)

Eva im Gespräch mit ihrem Psychiater:

"'Ach, Frau Gruber', sagt Korb und seufzt, 'so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloß alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären?'
Ich nicke. 'Ja', sag ich, 'wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können.'" E-Book, Position 1550

Meiner Meinung nach ist Eva eine grandiose Protagonistin – so eine ungewöhnliche, komplexe und unvergessliche Frau habe ich selten in der Literatur gesehen! Ich stimme einer Rezension zu, die ich vor einiger Zeit gelesen habe: Eva ist jung, wild, stark, mutig und rebellisch – und lebt vielleicht manchmal genau das aus, was wir uns (oft auch aus nachvollziehbaren Gründen) nicht trauen. Gleichzeitig sind wir von ihr schockiert, fasziniert und beeindruckt. Eva ist widersprüchlich (mal höflich, mal derb), verletzlich, entwaffnend ehrlich, hochintelligent und sehr humorvoll.

Ihr Blick auf die Welt ist erfrischend: Sie hinterfragt das Alltägliche, unsere Regeln und Konventionen und bringt uns damit zum Nachdenken. Ihre Ausdrucksweise hat mich manchmal vage an die Hauptfigur in Thomas Bernhards Debüt erinnert. Manchmal wirkt sie auch sehr unberechenbar. Ist Eva gefährlich? Kann man ihr als LeserIn überhaupt vertrauen? Warum behauptet sie, eine Kindergartenklasse ermordet zu haben? Trotz des Misstrauens: Es geht gar nicht anders, man fühlt und fiebert zunehmend mit Eva mit. Man fragt sich, was diese arme Person durchgemacht hat, um so zu werden und möchte sie manchmal einfach nur in den Arm nehmen. Mir ist Eva jedenfalls mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen und ich liebte sie am Ende des Buches mehr, als man diese manipulative, „verrückte“ Narzisstin vermutlich lieben sollte!

Figuren (♥)

Egal ob Bruder, Mutter oder Psychiater: Auch die anderen Figuren sind sehr gut gelungen, sogar jene, die nur kleine Rollen haben. Auch die Nebenfiguren wirken sehr plastisch und „echt“. Es menschelt stark in Angela Lehners Debütroman, der sich übrigens überhaupt nicht nach einem Debüt anfühlt.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Beim Lesen wurde auch ich langsam „verrückt“ – und zwar verrückt nach diesem Buch! Ich fand die Geschichte von der ersten Seite bis zur letzten unheimlich spannend. Das lag nicht nur am angenehmen Schreibstil, der dazu führt, dass man nur so durch die Geschichte rast, sondern auch an der Sogwirkung, die das Buch auf einen ausübt. Ich war so neugierig, wie es weitergeht, dass ich das Buch kaum auf die Seite legen konnte. Die überraschenden Wendungen, die Suche nach der Wahrheit, in die man sich beim Lesen irgendwie immer mehr hineinsteigert, und die kurzen Kapitel führen zu einem unglaublich hohen Lesetempo.

Den Humor und Sarkasmus im Buch fand ich großartig! Die Lektüre war absolut unterhaltsam und hat wirklich Spaß macht. Immer wieder musste ich schmunzeln, noch öfter jedoch habe ich laut aufgelacht! Dennoch gibt es auch sehr gelungene tiefgründige, ernste, düstere, verzweifelte und traurige Momente im Buch, die mich sehr berührt haben. Genau so muss das sein!
„Im Grunde unseres Herzens sind wir Menschen doch ewige Volksschullehrer mit Betragenslisten, auf denen wir den anderen Rot- und Schwarzpunkte geben.“ E-Book, Position 488

Feministischer Blickwinkel (♥)

Die Autorin bezeichnet sich selbst offen als Feministin – alleine das finde ich schon ziemlich cool. Noch cooler ist allerdings ihre starke, mutige Hauptfigur, die sich nicht viel sagen lässt und die gerne mal mit Geschlechterklischees bricht, z. B. wenn sie versucht, ihren schwachen und sensiblen Bruder zu schützen, oder wenn sie sich selbst als „Alpha-Tier“ bezeichnet. Nicht so gut gefallen haben mir die vereinzelten gegenderten Beschimpfungen (Fo---) und der Blondinen-Witz. Aber das verzeihe ich gern, wenn der Rest so großartig ist!

Mein Fazit

Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein originelles, erfrischendes und höchst unterhaltsames Debüt geschaffen. Der Schreibstil ist unglaublich angenehm zu lesen und hat einen charmanten österreichischen Einschlag. Mit entwaffnender Ehrlichkeit, genialem Humor und sehr gelungenen sprachlichen Bilder entzückt die Autorin das Leserherz. Die Geschichte ist wendungsreich und unvorhersehbar und überzeugt mit einem interessanten Setting (einer schon etwas heruntergekommenen Psychiatrie) und einer manipulativen, hochintelligenten, komplexen, traumatisierten Protagonistin, die einem schneller ans Herz wächst, als es einem lieb ist. Zahlreiche (auch unschöne) Themen wie psychische Krankheiten, die Frage nach unserer subjektiven Realität, Familie, Schmerz, Verlust, Kindheit und unverarbeitete Traumata behandelt die Autorin eindrucksvoll und tiefgründig. Eines wird schnell klar: Dieses Buch kann nicht nebenbei gelesen werden, denn sehr viel steckt zwischen den Zeilen und wird nur angedeutet. Lediglich am Ende hätte ich mir noch mehr klare Antworten auf meine Fragen gewünscht – andererseits, vielleicht ist es auch gerade dieses kompromisslose, völlige Abtauchen in der Psyche dieser schwer verstörten Protagonistin, das dieses Buch so großartig macht. Auf mich übte die spannende Geschichte jedenfalls eine so große Sogwirkung aus, dass ich das Buch kaum beiseitelegen konnte. Kurz: Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein unvergessliches Debüt geschaffen, das absolut zu recht mit Lob überschüttet und gehypt wird. Für mich eines der besten Bücher 2019! Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Humor: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!