Rezension

Lüge und Wahrheit

Vater unser - Angela Lehner

Vater unser
von Angela Lehner

Bewertet mit 3 Sternen

Weil sie erzählt, sie habe eine Kindergartenklasse erschossen, wird Eva Gruber in ein psychiatrisches Krankenhaus in Wien gebracht. Doch wird auch ihr Bruder Bernhard behandelt. Er ist der eigentliche Grund ihrer Einweisung. Bernhard will seine Schwester nicht sehen. Es erscheint ihr also am einfachsten, seinen Wunsch zu übergehen, wenn sie selbst therapiert werden muss. Auch im Krankenhaus legt sich Eva ihre Welt zurecht. Ihrem Therapeuten Dr. Korb macht sie das Leben nicht leicht. Mal widerborstig, mal kooperativ und unvorhersehbar. Wieso wurden die Geschwister so?

 

In ihrem auf knapp 300 Seiten komprimierten Roman konfrontiert die Autorin ihre Leser mit einer schwierigen Protagonistin. Kann man Eva glauben, dass sei das Beste für Bernhard will? Was ist in ihrer Kindheit wirklich geschehen? Wieso hadern die Geschwister so mit ihrem Leben oder ihrer Kindheit, dass sie schließlich in der geschützten Welt der Psychiatrie landen? Was ist Lüge, was ist Wahrheit? Gewitzt ist Eva alle mal und auch Humor kann man ihr nicht absprechen. Doch sie macht sich ihre Welt wie sie ihr gefällt, aber gefällt sie ihr wirklich? Kaum zu glauben. Jedenfalls duldet sie kaum jemanden außer sich selbst neben ihrem Bruder und es erscheint doch sehr zweifelhaft, ob dies ihm guttut.

 

Eine schwierige Entscheidung bahnt sich an. Je weiter man mit der Lektüre kommt, desto mehr beginnt man sich nach dem Sinn oder der tatsächlichen Geschichte zu fragen. Man möchte Eva und Bernhard verstehen. Man möchte ihre Verrücktheit erklärt bekommen. Oder werden Menschen einfach so so? Manchen Lesern mag gerade die Zerrissenheit der handelnden Personen gefallen und die verquere Weltsicht Evas. In anderen Lesern wächst möglicherweise der Wunsch nach der Erklärung, nach einer neutralen Sicht von außen, nach einem Rahmen, in dem sich die Ereignisse in gewissem Umfang ordnen lassen. Und so wird dieser durchaus neugierig machende Roman den einen mit seiner Konsequenz, immer bei Eva zu bleiben, begeistern und andere werden gerade darin einen Knackpunkt sehen, der die Begeisterung doch sehr einschränkt. Nach dem Umblättern der letzten Seite fühlt man sich vielleicht etwas im Stich gelassen.