Rezension

Hamburg nach Kriegsende 1918/1919

Sterne über der Alster - Micaela Jary

Sterne über der Alster
von Micaela Jary

Bewertet mit 5 Sternen

Mit der Abdankung Kaiser Wilhelm II findet die Monarchie in Deutschland ein Ende. Die Republik wird ausgerufen und eine parlamentarische Demokratie entsteht. Mitten in dieser Revolution nimmt sich Victor Dornhain das Leben, weil er dem Druck nicht mehr standhalten kann. Er hinterlässt einen Abschiedsbrief, von dem nur seine Tochter Ellinor und seine Mutter Charlotte Kenntnis erhalten und dessen brisanter Inhalt am besten niemand anderem zugänglich wird. Um keinen Skandal aufkommen zu lassen, hat Charlotte Dornhain die Dienstboten und den Haushalt fest im Griff.

Die älteste Tochter Ellinor steht schon lange als Nachfolgerin des Reeders fest, aber ihre Aufgabe ist nicht leicht, denn die Schiffe der Reederei fallen als Reparaturzahlungen an die Siegermächte und Ellinor steht quasi vor dem Nichts. Ihr zur Seite steht ihr Jugendfreund und Verlobter Christian Schulte-Stollberg.

Victor Dornhain war kein schlechter Geschäftsmann, denn er hat vor seinem Tod weit über den Tellerrand geblickt, was wahrscheinlich auf lange Sicht das Unternehmen Dornhain vor dem Untergang retten wird.

Lavinia ist an der Front in Spa/Belgien als Telefonistin des Nachrichtenkorps eingesetzt während ihr Ehemann mit ihrer Schwester Helena (genannt Nele), die ein Kind von Konrad erwartet, in der Schweiz weilt.

Anlässlich des Todes von Victor Dornhain rufen Ellinor und Charlotte die Schwestern nach Hause, in das Haus am Alsterufer, zurück.

Bei der Testamentseröffnung können Ellinor und Charlotte das Geheimnis von Victor Dornhain nicht mehr unter den Tisch kehren.

"Sterne über der Alster" ist das 2. Buch der Autorin Micaela Jary, das sich mit der Familiengeschichte der Reederfamilie Dornhain beschäftigt. Das Buch kann durchaus alleine gelesen werden, es empfiehlt sich jedoch, den 1. Teil "Das Haus am Alsterufer" gelesen zu haben, um die persönlichen Hintergründe der Charaktere wirklich verstehen zu können.

Nach kurzer Eingewöhnung war ich sehr schnell wieder im Haus Dornhain angelangt und treffe dort auf liebe und vertraute Menschen wie die Hausangestellte Klara, die seit 7 Jahren in den Diensten der Dornhains steht und noch immer nicht weiß, wer ihre leibliche Mutter ist. Die Köchin Ida, der Morgenmann Richter ... und all die dienstbaren Geister, die sich um die Familie Dornhain kümmern.

Auf der ältesten Tochter Ellinor liegt die größte Last, denn sie tritt das Erbe ihres Vaters Victor Dornhain an. Sie ist aber von allen 3 Schwestern tatsächlich diejenige, die diesem Job am ehesten gerecht werden wird, denn sie handelt überlegt, denkt vernunftgesteuert und besitzt den notwendigen Ernst und das Wissen, die Reederei zu leiten. Dass sie in Punkto Abschiedsbrief ihres Vaters mit ihrer Großmutter Charlotte gemeinsame Sache macht, hätte ich nicht von ihr erwartet.

Da das Leben sich nicht immer an die Spielregeln hält, vermute ich mal, dass Christian Schulte-Stollberg nicht ihr Ehemann werden wird. Hier ist ausreichend Platz für Spekulationen des Lesers.

Nele ist schwanger vom Mann ihrer Schwester und sie ist zurückhaltend, abwartend und eher introvertiert und zudem eifersüchtig. Ihr Verhalten ist einerseits, aufgrund ihrer persönlichen Situation, verständlich, andererseits dürfte sie ihre Schwester auch gerne mal auf den Pott setzen, denn Lavinia liebt Konrad nicht und hat ihn nie geliebt und eine Scheidung würde allen Beteiligten das Leben erleichtern.

Lavinia ist hier, wie auch im 1. Teil, das egoistische und selbstverliebte Weibchen, das wirklich an nicht viel anderes denken kann als an sich selbst und ihren persönlichen Vorteil. Sie lernt einen Mann kennen der sich für sie interessiert und schon ist es "die große Liebe". Aber auch eine Lavinia Dornhain muss feststellen, dass das Leben ungerecht sein kann.

Auch wenn Lavinia wirklich ein unausstehliches Ding ist, hat mir ihr Handlungsstrang auf vielen Seiten am besten gefallen. Im Gegensatz zu den eher ernsten Strängen von Ellinor und Nele, musste ich bei Lavinia oftmals grinsen (ja, manchmal auch aus Schadenfreude) oder den Kopf schütteln. Da Lavinia zu keinen tieferen Gefühlen fähig ist, kommt man wahrscheinlich nicht in die Verlegenheit mit ihr befreundet zu sein.

Charlotte Dornhain regiert in der Villa am Alsterufer mit harter Hand und es gäbe für sie nichts schlimmeres als einen Skandal um die Familie. Für den Selbstmord ihres Sohnes hat sie nur Verachtung übrig und Trauer sucht man bei ihr vergebens. Das Geheimnis Victor Dornhains hebt sein Ansehen bei seiner Mutter nicht, ganz im Gegenteil.

Konrad kann einem einfach nur leid tun. Lavinia gibt ihn nicht frei und Nele erwartet ein Kind von ihm. Zur damaligen Zeit nicht unbedingt eine glückliche Fügung des Schicksals. Aber Konrad geht seinen Weg. Ein überaus sympathischer Charakter.

Hervorheben möchte ich, wie perfekt die Autorin Micaela Jary die damalige Situation in Deutschland, den politische Umbruch nach dem Waffenstillstand und dem Rücktritt des Kaisers Wilhelm II. in die Handlung ihres Romans hat einfließen lassen.

Alles in allem hat mich "Sterne über der Alster" sehr gut unterhalten und ich würde mich freuen, wenn es irgendwann in naher Zukunft noch einen 3. Teil zur Familiengeschichte der Dornhains gibt. Stoff für eine Fortsetzung ist auf jeden Fall ausreichend vorhanden.