Rezension

Historischer Cop-Roman

Der Abstinent -

Der Abstinent
von Ian McGuire

Bewertet mit 5 Sternen

Historischer Aufhänger für den neuen Roman von Ian McGuire sind die „Märtyrer von Manchester“, drei Mitglieder der Fenian Brotherhood, die am 22. November 1867 hingerichtet wurden. Bei dem von ihnen verübten Überfall ist ein englischer Polizist  zu Tode gekommen.  Und ab hier wird´s fiktional: James O´Connor, einziger Ire der Polizei von Manchester, rät davon ab, die Drei öffentlich hinzurichten: „Es ist immer gefährlich, Märtyrer zu schaffen, Sir.“ Man hört nicht auf ihn. Prompt rufen die Fenians Stephen Doyle, einen Bürgerkriegsveteranen aus den Vereinigten Staaten. Geplant ist ein Anschlag auf den Bürgermeister von Manchester.

O´Connor, über dem Tod seiner Tochter und Frau zum Alkoholiker geworden, kommt  aus Dublin und hat in Manchester seine letzte Chance bekommen. Seit er in England ist, hat er keinen Alkohol mehr angerührt, obwohl es Grund genug gäbe: in der irischen Gemeinde ist er als englischer Cop ein Außenseiter; die Engländer trauen dem einzigen Iren in ihren Reihen nicht.

Die Atmosphäre des Romans ist düster und erinnert an die Romane von Dickens; es ist das schmutzige, giftige Manchester der Industriellen Revolution, mit all seinen Härten für das neue entstandene Proletariat, das McGuire mit feinem Pinselstrich erstehen lässt. Vor dieser Kulisse lässt McGuire seine klassische Cop-jagt-Übeltäter-Story ablaufen – aber als O´Connors Neffe  zwischen die Fronten gerät, oszillieren die Rollen von Jäger und Gejagtem.

Die Story scheint auf den ersten Blick nicht sonderlich originell, aber wie immer ist es das Wie, das den Ausschlag gibt. O´Connor hat Momente, in denen er sich bewusst ist, dass seine Handlungsweise einem alten Narrativ folgt. „Wir stecken alle in einem Hamsterrad, Blut gegen Blut, […], immer bleibt eine Rechnung offen, eine Lehre zu erteilen.“ Der bis zur Stumpfheit brutalisierte Kriegsveteran Doyle empfindet Alltag als unerträgliche Eintönigkeit, „ziellose, träge Jahre ohne jeden Glauben.“ „Das ist der Grund, warum er weiterkämpft, […] für diese Augenblicke außerhalb der Zeit, […] in denen die Welt ihre Trommel schlägt und er sich ohne jedes Nachdenken auf ihren Takt einlässt.“ McGuire vermeidet Schwarz-Weiß-Malerei; seine Figuren sind ambivalent. Das Drama der Grautöne beherrscht er perfekt. Außerdem liebe ich seine Dialoge: Pointiert, oft witzig und immer voller Subtext.

Für beide Männer gibt es im Mittelteil des Romans eine Art Innehalten; ich habe praktisch 50 Seiten lang nicht geatmet. Der Showdown findet unsere Helden in Pennsylvania wieder. Es kommt so, wie wir befürchtet haben, aber dennoch ganz anders. Das Schlusskapitel ist eine Zugabe der besonderen Art; so herzzerreißend traurig habe ich selten eins gelesen.

McGuires Roman hat Resonanz: seine Saga von Transzendenz und ideologischer Verblendung lässt sich mühelos auf viele aktuelle Konflikte übertragen. Leseempfehlung!