Rezension

Historischer Roman, der gerade in der ersten Hälfte einige Längen aufweist und mir dagegen in der zweiten Hälfte zu wenig ins Detail ging

Irmas Enkel
von Leandra Moor

Annemarie Bar, geboren im Dezember 1914, wächst mit ihren beiden Brüdern in Perlitz auf. Sie werden zu Halbwaisen, als der Vater im Ersten Weltkrieg stirbt. Die Mutter Helene hat den Tod ihres Mannes nie verkraftet und beschließt zu schweigen, als ihre Söhne während des Zweiten Weltkrieges an die Front müssen. Auch Annis Ehemann Bruno wird eingezogen und fällt 1941 in Russland. Anni erträgt ihr Schicksal nur, indem sie sich um ihre Schwägerin, ihre beiden Neffen und ihre Mutter kümmert. 
1946 heiratet sie Frieder, der es nur auf ihr Land abgesehen hat und sie als seine Ehefrau missbräuchlich behandelt. Die Geburt von Tochter Luise gibt Anni keinen neuen Lebensmut. Die Kriegszeiten waren schwer zu ertragen und auch die Zeit der Besatzung und die Gründung der DDR, wo Perlitz liegt, sind mit weiteren Einschnitten verbunden. Erst die Enkelin Jette lässt Anni wieder aufleben. 

Die Autorin schildert mit "Irmas Enkel" die über 60-jährige Lebensgeschichte ihrer Großmutter und verarbeitet darin das Schicksal ihrer eigenen Familie. Es ist ein Leben, das von wenig Höhen und vielen Tiefen geprägt ist und wie so viele Kriegsschicksale berührt. Anni ist eine starke Frau, die ihr Los ohne zu jammern und zu resignieren erträgt. 

Der Roman ist sehr ausführlich geschildert, geht oftmals bei Nebensächlichkeiten ins Detail, so dass er einige Längen aufweist. Es ist ein historischer Roman mit autobiografischem Hintergrund, der "gegen das Vergessen" geschrieben ist. So erhalten auch nachfolgende Generationen ein Gefühl für die Erlebnisse ihrer Großeltern und Eltern, die den Zweiten Weltkrieg und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre bewusst erleben mussten und einen Einblick in das System der ehemaligen DDR, das von Kollektivierung und Bespitzelung geprägt war. Durch die Einbettung von Briefen und die Schilderungen mit Herzblut wirkt der Roman sehr authentisch, konnte mich allerdings nicht durchgängig fesseln. Die Kriegsjahre waren mir zu ausufernd geschildert, dagegen weckte Insbesondere das Leben von Anni in den 1960er uns 1970er-Jahren mein Interesse, wobei ich eindrucksvoll fand, wie Anni in dem sozialistischem Einheitsstaat als Selbstversorgerin zurechtkam. Über das politische System erfuhr man jedoch nur sehr wenig. 
Leider ist die Erstauflage des Buches mit auffällig vielen Fehlern durchzogen, wurde von Verlagsseite offenbar sehr schlecht oder gar nicht lektoriert, was die Geschichte unfreiwillig abwertet. Auch finde ich den Titel nicht besonders passend gewählt, geht es doch um das Leben von Anni ohne Bezüge zu ihrer Großmutter Irma zu erkennen, während die anderen beiden Enkel aufgrund der Auswirkungen des Krieges nur eine untergeordnete Rolle spielen konnten. 
Da es sich um einen autobiografischen Roman handelt, hätte ich mir zudem ein Nachwort gewünscht, in welcher die Autorin ihre Intention und Recherche zu dem Roman erläutert hätte, schließlich war sie noch ein Kind, als ihre Großmutter starb. 

Kommentare

Leandra Moor antwortete am 16. Januar 2020 um 19:59

Liebe Lena,

gern beantworte ich die Fragen, die nach der Lektüre von "Irmas Enkel" bei Dir offengeblieben sind.

Die Wahrnehmung der Tiefe eines Buches ist oft individuell verschieden. Wenn Du in der Vergangenheit viel über die Kriegsjahre gelesen hast, dann überrascht Dich natürlich die eine oder andere Beschreibung nicht mehr. Dagegen hat die Handlung Deinen Wunsch, mehr über das politische System der ehemaligen DDR zu erfahren, geweckt. Wenn "Irmas Enkel" ein Anstoß war, dass Du Dich mit weiteren Büchern aus dieser Zeit beschäftigst, bestätigt das meine Intension des Schreibens. "Irmas Enkel" ist kein Sachbuch und erhebt somit als Roman nicht den Anspruch der Lückenlosigkeit. Das Buch beschreibt lediglich drei Familiengeschichten von Millionen.

Warum der Titel? Anni steht als eine von Irmas Enkeln im Mittelpunkt der Geschichte. Das Schicksal deren Brüder hat die Entwicklung in der Familie geprägt - sie sind dadurch bis zum Ende des Romans präsent. Luise und Alfreds Kinder sind Irmas Urenkel, Jette deren Ururenkelin. Der Titel "Irmas Enkel" steht als Synonym für die transgenerationelle Weitergabe der Folgen von Lebensläufen, denn oft sind es die dritten und vierten Generationen, die sich die Frage stellen, warum die Familienstrukturen der vorletzten Generationen für sie noch so prägend sind.

Deine Anregung, ein Nachwort zu verfassen, werde ich in der nächsten Auflage aufnehmen. Ich wurde durch die Lücken in meiner Familienbiografie dazu inspiriert, mich mit den geschichtlichen Zeiträumen zwischen 1914 und den 1980er Jahren zu beschäftigen. Dabei haben mich vor allem die Lebensläufe der Frauen interessiert. Im Zuge meiner Recherchen bin ich darauf gestoßen, dass solche Lücken in beinah jeder deutschen Familie zu finden sind. Zum einen ist das Fehlen der Familienmitglieder, die von jenen Zeiten erzählen könnten, dafür verantwortlich, zum anderen wird ein generationsübergreifendes Schweigen  gepflegt.                                                                 

"Irmas Enkel" ist nicht geschrieben worden, um aufzuführen, was sich in der Vergangenheit wirklich ereignet hat. Diese Frage könnten nur die Verstorbenen beantworten, und selbst deren Erinnerungen wären nicht das Abspielen eines Videos ihrer Lebensgeschichten. "Irmas Enkel" ist ein Roman und damit in seiner Gesamtheit eine fiktive Geschichte, die aus vielen Zusammenhängen entstanden ist, die mir meine Recherchen geschenkt haben. Das Buch ist nicht als Autobiografie zu verstehen. Nur einzelne Handlungsstränge ähneln Auschnitten meiner eigenen Familienbiografie - keiner ist eine Kopie der Dinge, die tatsächlich passiert sind. Unverrückbar ist allerdings der Umstand, dass sich die Lebensläufe jener Zeiten durch ihr kollektives Erleben ähneln.

Auch wenn uns alle die Neugier treibt, hundertprozentige Antworten werden wir nicht bekommen. Egal, wie sehr wir uns das auch wünschen. Mir war wichtig, Menschen zum gegenseitigen Austausch ihrer Geschichten anzuregen und wenn dabei (wie bei Dir) das Interesse für das Leben in der ehemaligen DDR geweckt wird, ist das wunderbar.

Hab weiter spannende Leseerfahrungen!

Viele Grüße, Leandra Moor.